Das Büro der Agentur Reuter, wo Jerry seine totgeborene Reportage ablieferte, war ein Monument für vergessene Helden und die Romantik des Scheiterns. Unter den Glasplatten der Schreibtische lagen die fotografierten Köpfe zerzauster junger Männer, an den Wänden sah man berühmt gewordene Ablehnungen und Beispiele für das Wüten der Redakteure; die Luft war erfüllt vom Gestank alter Druckerschwärze und vom Hauch des Heimwehs nach Irgendwo-in-England, das jeder Korrespondent im Exil im Herzen trägt. Gleich um die Ecke war ein Reisebüro, und später stellte sich heraus, daß Jerry während jener Zeit zweimal Flüge nach Hongkong gebucht hatte und dann nicht am Flugplatz erschienen war. Er wurde von einem ernsten jungen Vettern namens Pike betreut, der offiziell an der Pressestelle arbeitete und ihm gelegentlich Telegramme in gelben Kuverts mit der Aufschrift EILIGE PRESSEINFORMATION ins Hotel brachte, damit alles authentisch wirken sollte. Aber die Botschaft, die darin stand, war immer die gleiche: keine Entscheidung, stillhalten, keine Entscheidung. Er las Ford Maddox Ford und einen wahrhaft gräßlichen Roman über das alte Hongkong. Er las Greene und Conrad und T. E. Lawrence, und noch immer kam nichts. Die Bombardierungen klangen bei Nacht am schlimmsten, und die Panik war überall wie eine um sich greifende Seuche. Auf der Suche nach Stubbsis Porträts, nicht Prophezeiungen, ging er hinüber zur Amerikanischen Botschaft, wo an die zehntausend Vietnamesen sich an den Türen drängten, um ihre amerikanische Staatsangehörigkeit nachweisen zu können. Er sah, wie ein südvietnamesischer Offizier in einem Jeep ankam, aus dem Wagen sprang und auf die Frauen einzubrüllen begann, sie Huren und Verräterinnen nannte - offenbar ließ er seine Wut an einer Gruppe amerikanischer Ehefrauen zur linken Hand aus. Wiederum lieferte Jerry einen Artikel, und wiederum verwarf Stubbs ihn, was Jerrys Depression zweifellos noch steigerte. Ein paar Tage später verloren die Planer im Circus die Nerven. Da die volle Auflösung anhielt und sich noch beschleunigte, wiesen sie Jerry an, sofort nach Vientiane zu fliegen und dort unterzutauchen, bis ein Postbote der Vettern ihm anderslautende Orders bringen würde. Also flog er hin und nahm ein Zimmer im Constellation, wo Lizzie sich so gern hatte bewundern lassen, und er trank an der Bar, wo Lizzie getrunken hatte, und gelegentlich plauderte er mit Maurice, dem Besitzer, und im übrigen wartete er. Die Bar war aus Beton und zwei Fuß unter Straßenniveau, so daß sie notfalls als Luftschutzkeller oder Geschützstellung dienen konnte. Nebenan, im trübseligen Speisesaal, saß Abend für Abend ein alter colon allein an einem Tisch, hatte die Serviette in den Kragen gestopft und tafelte ausgiebig. Jerry saß lesend an einem anderen Tisch. Sie waren und blieben die einzigen Gäste, und sie wechselten nie ein Wort. Auf den Straßen patrouillierten die Pathet Lao - die noch nicht lang von ihren Bergen herabgestiegen waren - in Siegerhaltung immer zwei und zwei, sie trugen Mao-Mützen und Mao-Röcke und mieden die Blicke der Mädchen. Sie hatten die Villen an den Straßenecken und die Villen entlang zum Flugplatz requiriert. Sie kampierten in tadellosen Zelten, deren Spitzen über die Mauern wuchernder Gärten lugten. »Wird die Koalition halten?« fragte Jerry einmal Maurice. Maurice war kein politischer Mensch.
»Wir müssen's nehmen, wie's kommt«, antwortete er in seinem Bühnenfranzösisch und schenkte Jerry zum Trost einen Kugel; Schreiber mit der Aufschrift »Löwenbräu«. Maurice hatte die Konzession für ganz Laos, er verkaufte dem Vernehmen nach alljährlich mehrere Flaschen. Jerry mied gewissenhaft die Straße, in der das Büro von Indocharter lag, und ebenso verbot er sich, aus reiner Neugier einen Blick auf die Flohhütte am Stadtrand zu werfen, die, nach Charlie Marshalls Aussage, die menage á trois beherbergt hatte. Auf Jerrys Frage erwiderte Maurice, es seien zur Zeit nur noch sehr wenige Chinesen in der Stadt. »Chinesen mögen sie nicht«, sagte er lächelnd und wies mit dem Kopf auf die Pathet Lao draußen auf dem Gehsteig.
Bleibt noch das Geheimnis der Aufzeichnungen der Telefongespräche. Rief Jerry Lizzie vom Constellation aus an oder rief er sie nicht an? Und wenn er sie anrief, wollte er dann mit ihr sprechen oder nur ihre Stimme hören? Und wenn er beabsichtigte, mit ihr zu sprechen, was hatte er sich vorgenommen, ihr zu sagen? Oder genügte schon das bloße Tätigen eines Anrufs - ähnlich dem bloßen Buchen seiner Hongkong-Flüge - als Katharsis, die ihn von der Wirklichkeit erlöste?
Fest steht auf jeden Fall, daß man weder Smiley noch Connie oder sonst jemandem, der die fraglichen Aufzeichnungen las, Pflichtversäumnis vorwerfen kann, denn der Text war bestenfalls als zweideutig zu bezeichnen:
»Eingehender Überseeruf, mit Voranmeldung für Teilnehmer. Vermittlung am Apparat. Teilnehmer nimmt den Anruf entgegen, sagt mehrmals >hallo<. Vermittlung: Anrufer, bitte sprechen! Teilnehmer: Hallo? Hallo?
Vermittlung: Können Sie mich hören, Anrufer? Bitte sprechen Sie!
Teilnehmer: Hallo? Hier Liese Worth. Wer ist dort, bitte? Gespräch wird durch Anrufer beendet.«
Die Aufzeichnung erwähnt an keiner Stelle Vientiane als Herkunftsort des Anrufs, und es ist sogar ungewiß, ob Smiley sie überhaupt zu sehen bekam, denn sein Zeichen erscheint nicht bei den Unterschriften.
Indes, ob nun Jerry der Anrufer gewesen war oder jemand anderer, am nächsten Tag brachten ihm zwei Vettern, nicht einer, einen Marschbefehl und endlich den willkommenen befreienden Einsatz. Die verdammte, endlose wochenlange Warterei war vorüber - und zwar für immer.
Er verbrachte den Nachmittag damit, sich Visa zu beschaffen und seine Reise zu buchen und am nächsten Morgen, bei Tagesanbruch, überquerte er mit Umhängetasche und Reiseschreibmaschine den Mekong nach Nordost-Thailand. Auf dem langen hölzernen Fährboot drängten sich Bauern und quiekende Schweine. In der Kontrollbaracke am Grenzübergang gab er an, daß er auf dem gleichen Weg wieder nach Laos zurückwolle. Andernfalls hätte man ihm die Einreise verweigern müssen, wie die Beamten streng erklärten. Vorausgesetzt, daß ich überhaupt zurückkomme, dachte er. Als er zur entschwindenden Küste von Laos zurückblickte, sah er auf dem Treidelpfad einen amerikanischen Wagen stehen und daneben zwei schlanke regungslose Gestalten, die Ausschau hielten. Die Vettern sind allezeit bei uns. Auf dem Thai-Ufer war sofort alles unmöglich: Jerrys Visum war ungenügend, sein Foto sah ihm nicht ähnlich, das ganze Gebiet war für farangs gesperrt. Zehn Dollar bewirkten einen Meinungswandel. Nach dem Visum kam der Wagen. Jerry hatte auf einem englischsprechenden Fahrer bestanden, der Preis war entsprechend festgesetzt worden, aber der alte Mann, der auf ihn wartete, sprach nur Thai und auch dies nur mangelhaft. Jerry bellte so lange englische Sätze in den Reisladen nebenan, bis er einen fetten trägen Jungen herauslockte, der über einige Englischkenntnisse verfügte und behauptete, chauffieren zu können. Umständlich wurde ein Vertrag aufgesetzt. Die Versicherung des alten Mannes deckte keinen anderen Fahrer und war ohnehin abgelaufen. Ein erschöpfter Commis stellte eine neue Police aus, während der Junge nach Hauseging, um sich reisefertig zu machen. Der Wagen war ein klapperiger roter Ford mit abgefahrenen Reifen. Von allen Todesarten, die Jerry in den nächsten paar Tagen nicht zu sterben gedachte, war dies die allerletzte. Sie feilschten, und Jerry rückte weitere zwanzig Dollar heraus. In einer Werkstatt voller Hühner ließ er kein Auge von den Mechanikern, bis die neuen Reifen aufmontiert waren.