»Der Zeitungsmann?« fragte er Jerry in monotonem militärischem Amerikanisch. »Bin ich.«
Die Augen des Colonel richteten sich auf den Fahrer. Er sagte etwas, und Mickey ging schleunigst zum Wagen zurück, stieg ein und blieb drinnen. »Was wollen Sie?«
»Hier jemand gestorben?«
»Drei Leute. Habe sie gerade erschossen. Wir haben achtunddreißig Millionen.« Sein amtliches, nahezu perfektes amerikanisches Englisch war eine Überraschung. »Warum haben Sie die Leute erschossen?«
»In der Nacht hielten die KTs hier Schulung ab. Die Leute kamen aus der ganzen Umgebung, um den KTs zuzuhören.« Kommunistische Terroristen, dachte Jerry. Er glaubte sich zu erinnern, daß es ursprünglich eine britische Wendung sei. Eine Reihe Lastwagen kam langsam auf der Landstraße daher. Bei ihrem Anblick begannen die Dörfler, Bettzeug und Kinder zusammenzuraffen. Der Colonel bellte einen Befehl, und seine Männer stellten die Leute in einer Schlange auf, während die Lastwagen wendeten.
»Wir bringen sie an einen besseren Ort«, sagte der Colonel. »Sie fangen neu an.«
»Wen haben Sie erschossen?«
»Letzte Woche wurden zwei meiner Männer durch Bomben getötet. Die KTs operierten von diesem Dorf aus.« Er suchte eine mürrische Frau aus, die gerade auf den Lastwagen klettern wollte und rief sie zurück, damit Jerry sie ansehen konnte. Sie stand mit gesenktem Kopf da.
»In ihrem Haus hielten sie sich auf«, sagte er. »Diesmal habe ich ihren Mann erschossen. Nächstesmal erschieße ich sie.«
»Und die beiden anderen?« fragte Jerry.
Er fragte, weil fragen am Ball bleiben bedeutet, aber der Befragte war Jerry, nicht der Colonel. Die braunen Augen des Offiziers waren hart und abschätzend und hielten eine ganze Menge zurück. Sie blickten Jerry forschend, aber ohne Besorgnis an. »Einer der KTs schlief mit einem Mädchen hier«, sagte er einfach. »Wir sind nicht nur die Polizei. Wir sind auch Richter und Gerichtshof. Es gibt sonst niemanden. Bangkok liegt nichts an einer Menge Prozesse hier draußen. «Die Dörfler waren jetzt auf den Lastwagen. Sie fuhren weg, ohne zurückzublicken. Nur die Kinder winkten über die Rückplanke. Die Jeeps folgten den Lastwagen, zurück blieben die drei Männer und die beiden Autos und ein Junge von vielleicht fünfzehn Jahren. »Wer ist er?« sagte Jerry.
»Er kommt mit uns. Nächstes Jahr, vielleicht übernächstes, erschieße ich ihn auch.«
Jerry fuhr neben dem Colonel im Jeep, der Colonel chauffierte» Der Junge saß teilnahmslos hinter ihnen und murmelte nur ja und nein, während der Colonel ihm in festem, mechanischem Tonfall eine Ansprache hielt. Mickey folgte mit dem Taxi. Auf dem Boden des Jeeps, zwischen Sitz und Pedalen, hatte der Colonel vier Granaten in einer Pappschachtel liegen. Ein kleines Maschinengewehr lag quer über dem Rücksitz, und der Colonel geruhte nicht, es wegen des Jungen dort wegzunehmen. Über dem Rückspiegel hing neben den Heiligenbildern ein Postkartenfoto von John Kennedy mit dem Text »Frage nicht, was dein Land für dich tun kann, Frage lieber, was du für dein Land tun kannst.« Jerry hatte sein Notizbuch gezückt. Der Colonel redete noch immer auf den Jungen ein.
»Was sagen Sie zu ihm?«
»Ich erkläre ihm das Wesen der Demokratie.«
»Und das wäre?«
»Kein Kommunismus und keine Generale«, erwiderte er und lachte.
An der Hauptstraße bogen sie rechts ein, weiter ins Landesinnere, und Mickey folgte in seinem roten Ford. »Mit Bangkok verhandeln ist genauso, wie wenn man auf den hohen Baum da klettert«, sagte der Colonel zu Jerry und wies zum Wald hinüber. »Man klettert auf einen Ast, steigt weiter, auf den nächsten, der Ast bricht ab, man steigt wieder hinauf. Vielleicht kommt man eines Tages bis zum obersten General. Vielleicht auch nie.«
Zwei kleine Kinder winkten vom Straßenrand, und der Colonel hielt an, damit sie sich neben den Jungen quetschen konnten. »Ich tue das nicht sehr oft«, sagte er und lächelte wieder unvermittelt. »Ich tue das, damit Sie sehen, ich bin ein netter Mensch. Wenn die KTs spitzkriegen, daß man wegen der Kinder anhält, dann richten sie die Kinder dazu ab. Man muß ständig wechseln. Nur dann bleibt man am Leben.« Er war wieder in den Wald eingeschwenkt. Sie fuhren ein paar Meilen und ließen die kleinen Kinder aussteigen, nicht aber den mürrischen Jungen. Die Bäume wichen trostlosem Buschland. Der Himmel wurde weiß, nur die Umrisse der Berge ragten aus dem Nebel.
»Was hat er getan?« fragte Jerry.
»Der? Er ist ein KT«, sagte der Colonel. »Wir fangen ihn.« Im Wald sah Jerry etwas golden blitzen, aber es war nur ein wat. »Letzte Woche macht einer meiner Polizisten Spitzel für KT. Ich schicke ihn auf Patrouille, erschieße ihn, mache großen Helden aus ihm. Ich verschaffe der Frau eine Rente, ich kaufe große Fahne für den Sarg, mache großes Begräbnis, und das Dorf wird ein bißchen reicher. Der Bursche ist kein Spitzel mehr. Er ist ein Volksheld. Man muß die Bevölkerung für sich gewinnen.«
»Ganz recht«, bestätigte Jerry.
Sie kamen zu einem weiten trockenen Reisfeld, in dessen Mitte zwei Frauen den Boden bearbeiteten, sonst war nichts zu sehen außer einer entfernten Hecke und felsigem Dünenland, das sich in den weißen Himmel verlief. Mickey mußte im Ford sitzenbleiben, Jerry und der Colonel wanderten über das Feld, der mürrische Junge schlurfte hinterdrein. »Sie sind Brite?«
»Ja.«
»Ich war auf der Internationalen Polizeiakademie in Washington«, sagte der Colonel. »Sehr hübsch dort. Ich habe an der Michigan State Law Enforcement studiert. Ging uns nicht schlecht dort. Würden Sie bitte ein bißchen Abstand von mir halten?« fragte er höflich, als sie bedächtig über einen Sturzacker stapften. »Ich werde erschossen, nicht Sie. Wenn sie einen farang erschießen, kriegen sie hier zu viel Scherereien. Das wollen sie nicht. Niemand erschießt einen farang in meinem Bezirk.« Sie waren bei den Frauen angekommen. Der Colonel sagte etwas zu ihnen, ging ein Stück weiter, blieb stehen, schaute sich zu dem mürrischen Jungen um, kehrte zu den Frauen zurück und sagte nochmals etwas zu ihnen. »Worum geht's?« sagte Jerry.
»Ich frage sie, ob's in der Gegend KTs gibt. Sie sagen nein. Dann denke ich: vielleicht wollen die KTs den Jungen da wiederhaben. Also geh ich zurück und sage zu ihnen: >Wenn irgendwas passiert, erschießen wir euch Weiber zuerst<.« Jetzt waren sie an der Hecke. Vor ihnen lagen die Dünen, überwachsen von hohen Büschen und Palmen wie Schwertklingen. Der Colonel hielt die Hände trichterförmig vor den Mund und brüllte etwas, bis ein Antwortruf kam.