»Ich lernte das im Dschungel«, erklärte er und lächelte wieder. »Wenn man im Dschungel ist, immer zuerst rufen.«
»Was für ein Dschungel war das?« fragte Jerry. »Bleiben Sie jetzt bitte dicht bei mir. Lächeln Sie, wenn Sie mit mir sprechen. Man muß Sie sehr deutlich sehen können.« Sie hatten einen kleinen Fluß erreicht. Am Ufer hackten hundert oder mehr Männer, einige sogar noch jünger als der Junge, stumpfsinnig, mit Piken und Spaten auf die Felsen ein oder wuchteten Zementsäcke von einem hohen Haufen auf einen anderen, wobei eine Handvoll bewaffneter Polizisten lässig zusah. Der Colonel rief den Jungen herbei und sagte etwas zu ihm, und der Junge senkte den Kopf, und der Colonel versetzte ihm eine schallende Ohrfeige. Der Junge murmelte etwas, und der Colonel schlug nochmals zu, dann klopfte er ihm auf die Schulter, worauf der Junge wie ein freigelassener, aber verkrüppelter Vogel davonschusselte, um sich der Arbeitskolonne anzuschließen. »Wenn Sie über KTs schreiben, schreiben Sie auch über meinen Damm hier«, befahl der Colonel, während sie sich auf der Rückweg machten. »Wir machen hier schönes Weideland. Es wird nach mir benannt.«
»In welchem Dschungel haben Sie gekämpft?« wiederholte Jerry, als sie zurückgingen.
»Laos. Sehr schwere Kämpfe.«
»Als Freiwilliger?«
»Klar. Ich habe Kinder, brauche das Geld. Gehe zu PARU! Schon von PARU gehört? Haben die Amerikaner aufgezogen und befehligt. Ich schreibe einen Brief, daß ich aus der Thai-Polizei austrete. Liegt in einer Schublade bei ihnen. Wenn ich umkomme, holen sie den Brief heraus als Beweis, daß ich ausgetreten bin, bevor ich zu PARU ging.«
»Haben Sie dort auch Ricardo kennengelernt?«
»Klar. Ricardo mein Freund. Haben zusammen gekämpft, eine Menge Feinde erschossen.«
»Ich möchte ihn besuchen«, sagte Jerry. »Ich habe in Saigon eines seiner Mädchen getroffen. Sie sagte mir, er hat hier in der Gegend ein Haus. Ich möchte ihm ein Geschäft vorschlagen.« Sie kamen wieder an den Frauen vorüber. Der Colonel winkte ihnen zu, aber sie reagierten nicht. Jerry beobachtete seine Miene, aber er hätte ebensogut einen Felsblock hinten auf den Dünen beobachten können. Der Colonel stieg in den Jeep. Jerry sprang nach ihm hinein.
»Ich dachte, vielleicht könnten Sie mich zu ihm bringen. Ich könnte ihn sogar für ein paar Tage reich machen.«
»Ist es für Ihre Zeitung?«
»Es ist privat.«
»Sie wollen ihm ein privates Geschäft vorschlagen?« fragte der Colonel.
»Stimmt.«
Als sie zur Hauptstraße zurückfuhren, kamen ihnen zwei gelbe Zementmixerwagen entgegen, und der Colonel mußte zurücksetzen, um sie vorbeizulassen. Jerry las automatisch den Namen, der an die gelben Seitenwände aufgemalt war. Dabei bemerkte er, daß der Colonel ihn aus den Augenwinkeln beobachtete. Sie fuhren weiter ins Landesinnere, so schnell, wie der Jeep es schaffte, um allen üblen Absichten, die unterwegs auf sie lauern mochten, zuvorzukommen. Mickey folgte getreulich. »Ricardo ist mein Freund, und das hier ist mein Bezirk«, wiederholte der Colonel in tadellosem Amerikanisch. Die Feststellung war, obgleich bereits-bekannt, diesmal eine ausdrückliche Warnung. »Er lebt hier unter meinem Schutz, das haben wir vereinbart. Jeder hier weiß es. Die Dörfler wissen es, die KTs wissen es. Niemand tut Ricardo etwas, oder ich erschieße jeden KT auf dem Damm.«
Als sie von der Hauptstraße wieder auf den Feldweg einbogen, sah Jerry die leichten Rutschspuren eines kleines Flugzeugs auf dem Teer eingeprägt. »Landet er hier?«
»Nur in der Regenzeit«, fuhr der Colonel fort und blieb bei der Erläuterung seiner ethischen Position in dieser Angelegenheit. »Wenn Ricardo Sie tötet, ist das seine Sache. Ein farang erschießt einen anderen farang in meinem Bezirk, das ist natürlich.« Er sagte es, als erklärte er einem Kind das kleine Einmaleins. »Ricardo ist mein Freund«, wiederholte er ohne Verlegenheit. »Mein Kamerad.«
»Erwartet er mich?«
»Bitte seien Sie rücksichtsvoll. Captain Ricardo ist zeitweise ein kranker Mann.«
Tiu bringt ihn unter, hatte Charlie Marshall gesagt, an einem Ort, wo nur Verrückte hingehen. Tiu sagt zu ihm »Sie bleiben am Leben, Sie behalten das Flugzeug, Sie schmuggeln Waffen für Charlie Marshall, jederzeit, befördern Geld für ihn, sorgen dafür, daß ihm nichts passiert, wenn Charlie es so haben will. Das ist das Abkommen, und Drake Ko hat noch nie ein Abkommen gebrochen«, sagt er. Aber wenn Ric Geschichten macht oder wenn Ric pfuscht oder wenn Ric über gewisse Dinge seine große Klappe nicht halten kann, dann machen Tiu und seine Leute diesen blöden Kerl gründlich fertig, daß er nicht mehr weiß, wer er ist. »Warum setzt Ric sich nicht einfach ins Flugzeug und haut ab?« hatte Jerry gefragt.
» Tiu hat Ries Pass, Voltaire. Tiu zahlt Ries Schulden und seine geschäftlichen Unternehmungen und kauft seine Polizeiakte. Tiu hängt ihm ungefähr fünfzig Tonnen Opium an, und Tiu hat für die Rauschgifthelden alle Beweise parat, falls er sie mal brauchen kann. Ric kann ohne weiteres und jederzeit hin, wo er will. Überall auf der ganzen verdammten Welt wartet schon ein Gefängnis auf ihn.
Das Haus mit dem ringsum laufenden Balkon war auf Pfählen erbaut, ein Bach floß neben dem Haus und darunter hielten sich zwei Thai-Mädchen auf, von denen die eine ihr Baby stillte, während die andere in einem Kochtopf rührte. Dahinter erstreckte sich ein flaches braunes Feld, an dessen Ende man einen Schuppen sah, groß genug für ein kleines Flugzeug - zum Beispiel eine Beechcraft -, und eine silbrige Spur aus zerdrücktem Gras führte über das Feld, wo kürzlich jemand gelandet sein mochte. Das Haus stand in der Mitte eines breiten Feldwegs auf einer kleinen Erhebung, und in der Nähe gab es keine Bäume. Man hatte freien Ausblick nach allen Richtungen, und die breiten, aber nicht sehr hohen Fenster schienen Jerry eigens umgebaut worden zu sein, damit man von drinnen einen möglichst weiten Schußwinkel hätte. Kurz vor dem Haus ließ der Colonel Jerry aussteigen und ging mit ihm nach hinten zu Mickeys Wagen. Er sagte etwas zu Mickey, und Mickey sprang heraus und öffnete den Kofferraum. Der Colonel griff unter den Fahrersitz, zog die langläufige Pistole heraus und warf sie verächtlich in den Jeep. Er filzte Jerry, dann filzte er Mickey, dann durchsuchte er persönlich den Wagen, dann gebot er ihnen beiden, zu warten, und stieg die Treppe zum ersten Stock hinauf. Die Mädchen beachteten ihn nicht. »Er feiner Colonel«, sagte Mickey. Sie warteten.
»England reiches Land«, sagte Mickey.
»England ein sehr armes Land«, gab Jerry zurück, während sie zum Haus hinübersahen.
»Armes Land, reiche Leute«, sagte Mickey. Er schüttelte sich noch immer vor Lachen über seinen eigenen Witz, als der Colonel aus dem Haus kam, in den Jeep stieg und wegfuhr.
»Warte hier«, sagte Jerry. Er ging langsam bis zum Fuß der Treppe, dann hielt er die Hände vor den Mund und rief hinauf.
»Ich heiße Westerby. Vielleicht erinnern Sie sich, daß Sie vor ein paar Wochen in Phnom Penh auf mich geschossen haben. Ich bin ein armer Journalist mit teuren Einfällen.«
»Was wollen Sie, Voltaire? Jemand hat mir erzählt, Sie seien bereits tot.«