Am nächsten Morgen um sechs Uhr würde Ricardo im Hotel den Besuch eines Mannes erhalten, der sich als Freund von Mr. Johnny melden würde. Ricardo sollte mit ihm gehen. Alles lief ab, wie geplant. Ricardo flog nach Chiang Mai, verbrachte eine enthaltsame Nacht im Rincome, und um sechs Uhr stellten sich zwei Chinesen, nicht einer, bei ihm ein und fuhren mit ihm ein paar Stunden lang nach Norden, bis sie zu einem Hakka-Dorf kamen. Sie stiegen aus, marschierten eine halbe Stunde bis zu einem leeren Feld, an dessen Ende ein Schuppen stand. Im Schuppen war eine »flotte kleine Beechcraft« abgestellt, nagelneu, und in der Beechcraft saß Tiu auf dem Sitz des Copiloten und hatte eine Menge Landkarten und Papiere auf dem Schoß. Die rückwärtigen Sitze waren ausgebaut worden, um für die Rupfensäcke Platz zu schaffen. Ein paar chinesische Bullen standen abseits und sahen zu, und die ganze Stimmung war, wie Ricardo durchblicken ließ, nicht unbedingt nach seinem Geschmack.
»Zuerst mußte ich meine Taschen leeren. Meine Taschen sind für mich etwas sehr Persönliches, Voltaire. Wie die Handtasche für eine Dame. Andenken, Briefe, Fotos, meine Madonna. Sie behalten alles. Meinen Paß, meine Fluglizenz, mein Geld . . . sogar meine Armbänder«, sagte er und hob die braunen Arme, so daß sie klimperten.
Danach, sagte er mißbilligend, hatte er weitere Dokumente zu unterschreiben. Zum Beispiel eine Prozeßvollmacht, mit der er die geringen Reste abtrat, die von seinem Leben nach dem Indocharter-Vertrag noch übrig waren. Zum Beispiel mehrere Geständnisse früherer »technisch illegaler Unternehmungen«, die - sagte Ricardo mit beträchtlicher Empörung - häufig auf das Konto von Indocharter gegangen seien. Einer der chinesischen Bullen entpuppte sich sogar als Jurist. Ricardo betrachtete das als besonders unsportlich.
Erst dann rückte Tiu mit den Landkarten und den Instruktionen heraus, die Ricardo in einer Mischung aus seiner eigenen und Tius Redeweise wiedergab. »>Sie nehmen Kurs nach Norden, Mister Ricardo, und Sie behalten diesen Kurs bei. Ob Sie nun den Abschneider über Laos nehmen oder über den Shans bleiben ist mir egal. Das Fliegen ist Ihre Sache, nicht die meine. Fünfzig Meilen hinter der chinesischen Grenze stoßen Sie auf den Mekong und folgen ihm. Dann fliegen Sie weiter nach Norden, bis sie eine kleine Gebirgsstadt namens Tien-pao sehen, die an einem Zufluß dieses berühmten Stroms steht. Von dort zwanzig Meilen nach Osten finden Sie eine Landebahn, ein grünes Leuchtfeuer, ein weißes. Sie tun mir den Gefallen, dort zu landen. Ein Mann wird Sie erwarten. Er spricht Englisch nur mangelhaft, aber er spricht es. Hier ist eine halbierte Dollarnote. Der Mann hat die andere Hälfte. Laden Sie das Opium aus. Der Mann wird Ihnen ein Paket und gewisse spezielle Instruktionen übergeben. Dieses Paket ist Ihre Quittung. Bringen Sie es mit, wenn Sie zurückkommen, und befolgen Sie sämtliche Instruktionen ganz genau, besonders was den Ort Ihrer Landung betrifft. Haben Sie mich komplett verstanden, Mr. Ricardo?<«
»Was für eine Art Paket?« fragte Jerry.
»Er sagt es nicht, und mir ist es egal. >Sie tun das«, sagt er, >und halten Ihre große Klappe, Mr. Ricardo, und meine Geschäftspartner werden sich ihr ganzes Leben lang um Sie kümmern wie um einen eigenen Sohn. Um Ihre Kinder werden sie sich kümmern, um Ihre Mädchen. Um Ihr Mädchen in Bali. Solange Sie leben, werden sie sich dankbar zeigen. Aber wenn Sie sie betrügen oder etwas in der Stadt austrompeten, dann bringen sie Sie todsicher um, Mr. Ricardo, glauben Sie mir. Vielleicht nicht morgen und auch nicht übermorgen, aber sie bringen Sie todsicher um. Wir haben einen Vertrag, Mr. Ricardo. Meine Geschäftspartner brechen niemals einen Vertrag. Sie sind sehr rechtsbewußte Männer.« Mir ist der Schweiß ausgebrochen, Voltaire. Ich bin in bester Kondition, erstklassiger Sportsmann, aber der Schweiß bricht mir aus. >Keine Sorge, Mr. Tiu«, sage ich zu ihm. >Mr. Tiu, Sir, wann immer Sie Opium nach Rotchina fliegen wollen, ist Ricardo Ihr Mann.« Voltaire, glauben Sie mir, mir war gar nicht wohl bei der Sache.«
Ricardo kniff sich in die Nase, als wollte er Meerwasser herausdrücken.
»Hören Sie zu, Voltaire. Hören Sie sehr aufmerksam zu. Als ich jung und dumm war, flog ich zweimal für die Amerikaner in die Provinz Yünnan. Um ein Held zu sein, muß man gewisse blödsinnige Dinge tun, und wenn man abstürzt, holen sie einen vielleicht eines Tages heraus. Aber bei jedem Flug schaue ich hinunter auf die lausige braune Erde und sehe Ricardo in einem Holzkäfig. Keine Weiber, einen lausigen Fraß, kein Platz zum Stehen, kein Platz zum Sitzen oder Schlafen, Ketten an den Armen, keinerlei Status oder Zugehörigkeit. >Hier ist ein Imperialistenspion und Schmuggler zu sehen !< Voltaire, diese Vorstellung gefällt mir nicht. Mein ganzes Leben lang in China eingesperrt zu sein, weil ich Opium geschmuggelt habe? Ich bin nicht begeistert. >Klar, Mr. Tiu! Bye-bye! Bis heute nachmittag!« Ich muß ernsthaft nachdenken.«
Der braune Dunst des Sonnenuntergangs erfüllte plötzlich den Raum. Auf Ricardos gebräunter Brust hatte sich trotz seiner tadellosen Kondition wiederum Schweiß gebildet. Er lag in Tropfen auf dem schwarzen Haar und den geölten Schultern.
»Wo war Lizzie während der ganzen Zeit?«fragte Jerry abermals.
Ricardos Antwort kam nervös, ja ärgerlich.
»In Vientiane. Auf dem Mond. Im Bett mit Charlie. Was zum Teufel geht das mich an?«
»Wußte sie von dem Handel mit Tiu?«
Ricardo schnitt nur eine verächtliche Grimasse.
Zeit, daß ich gehe, dachte Jerry. Zeit, daß ich die letzte Ladung zünde und davonrenne. Drunten zog Mickey vor Ricardos Frauen eine große Schau ab. Jerry konnte sein singendes Geplapper hören, unterbrochen von ihrem hellen Lachen, das sich anhörte wie das Lachen einer ganzen Mädchenklasse.
»Also sind Sie geflogen«, sagte er. Er wartete, aber Ricardo blieb tief in seinen Gedanken versunken.
»Sie sind gestartet und nahmen Kurs nach Norden«, sagte Jerry. Ricardo hob ein wenig die Lider und heftete einen drohenden, wütenden Blick auf Jerry, bis er schließlich der Aufforderung, von seiner Heldentat zu berichten, doch nicht länger widerstehen konnte.
»Ich bin nie im Leben so gut geflogen. Diese kleine schwarze Beechcraft. Hundert Meilen nach Norden, weil ich keinem traue. Vielleicht haben diese Clowns mich irgendwo auf einem Radarschirm eingefangen? Ich gehe kein Risiko ein. Dann nach Osten, aber sehr langsam, so nah über den Bergen, daß ich den Kühen zwischen den Beinen durchfliege, okay? Im Krieg haben wir dort droben kleine Landebahnen, verrückte Vorposten mitten im feindlichen Land. Ich habe solche Plätze schon angeflogen, Voltaire. Ich kenne sie. Ich finde einen, direkt auf einem Berggipfel, ist nur aus der Luft erreichbar. Ich schaue hinunter, sehe die Tanksäule, ich lande, ich tanke die Maschine auf, ich schlafe ein bißchen, verrückte Sache. Aber Herrgott, Voltaire, es ist nicht die Provinz Yünnan, okay? Es ist nicht China, und Ricardo, der amerikanische Kriegsverbrecher und Opiumschmuggler, wird den Rest seines Lebens nicht in Peking an einem Fleischerhaken hängen, okay? Hören Sie, ich bringe diese Maschine wieder zurück nach Süden, ich kenne Orte, ich kenne Orte, an denen ich eine komplette Luftwaffe verlieren könnte, glauben Sie mir.«
Was die kommenden Monate seines Lebens anging, wurde Ricardo plötzlich sehr unpräzis. Er hatte einmal vom Fliegenden Holländer gehört und sagte, genau das sei aus ihm geworden. Er flog, versteckte sich wieder, flog, spritzte die Beechcraft neu, verkaufte das Opium in kleinen Portionen, um nicht aufzufallen, ein Kilo hier, fünfzig dort, wechselte einmal im Monat die Zulassung, kaufte bei einem Inder einen spanischen Paß, traute ihm aber nicht und hielt sich von allen seinen Bekannten fern, auch von Rosie in Bangkok und sogar von Charlie Marshall. Das war damals, so erinnerte Jerry sich an Old Craws Information, als Ricardo den Leuten vom Rauschgiftdezernat Opium verkaufte, aber mit seiner Geschichte abblitzte. Auf Tius Anweisung hatten die Jungens bei Indocharter Ricardo unverzüglich auf die Verlustliste gesetzt und seine Flugroute nach Süden verlegt, um die Aufmerksamkeit abzulenken. Ricardo hatte es erfahren und nichts dagegen gehabt, tot zu sein.