Drei Stunden später machte Tiu bei einem Telefongespräch mit seinem Reisebüro eilige. Pläne für eine Geschäftsreise nach dem chinesischen Festland. Seine erste Station würde Kanton sein, wo China Airsea eine Vertretung hatte, aber sein Ziel war Schanghai. Wie aber hatte Ricardo Tiu so schnell erreicht, ohne das Telefon zu benutzen? Die wahrscheinlichste Theorie lautete: durch die Verbindung des Polizei-Obersten mit Bangkok. Und von Bangkok aus? Das wußte der Himmel. Handels-Telex, das Wechselkursübertragungsnetz, alles ist möglich. Die Chinesen haben bei solchen Unternehmungen ihre eigenen Kanäle. Andererseits war es auch denkbar, daß einfach Kos Geduldsfaden gerade in diesem Augenblick von selbst gerissen war und daß es bei dem Frühstück »Bei George« um etwas völlig anderes ging. So oder so, es war der Durchbruch, von dem sie alle geträumt hatten, die triumphale Rechtfertigung für Smileys Mühen. Um die Lunchzeit hatte Lacon persönlich vorgesprochen, um seine Glückwünsche zu entbieten, und am frühen Abend hatte sich Saul Enderby zu einer Geste aufgeschwungen, die niemand von der falschen Seite des Trafalgar Square jemals gemacht hatte. Er hatte von Berry Brothers and Rudd eine Kiste Champagner schicken lassen, Krug Auslese, eine wahre Pracht. Dabei lag ein Briefchen an George mit den Worten: »Auf den ersten Sommertag«. Und genau das schien es zu sein, auch wenn man erst Ende April schrieb. Durch die dicken Netzgardinen der unteren Stockwerke konnte man das volle Laub der Platanen sehen. Weiter oben waren die Hyazinthen in Connies Fensterkasten erblüht. »Rot«, sagte sie, als sie auf Saul Enderbys Wohl trank. »Karlas Lieblingsfarbe, hol ihn der Teufel.«
Die Flußbiegung
Der Luftstützpunkt war weder großartig noch berühmt. Technisch gesehen unterstand er den Thais, in der Praxis durften die Thais lediglich den Müll einsammeln und die Einzäunung des Platzes bewachen. Der Kontrollpunkt war eine Stadt für sich. Überall roch es nach Holzkohle, Urin, Pökelfisch und Propangas, und eine Reihe baufälliger Wellblechschuppen beherbergte die uralten Gewerbe des militärischen Besatzungszustands. Die Bordelle waren mit Ausschußware bevölkert, die Schneiderläden boten Hochzeitsfräcke feil, die Buchhandlungen boten Pornographie und Reisen an, die Bars hießen Sunset Strip, Hawaii und Lucky Time. In der M.P.-Baracke fragte Jerry nach Captain Urquhart von Public Relations, und der schwarze Sergeant machte Miene, ihn rauszuwerfen, als er sagte, er sei Journalist. Am Diensttelefon hörte Jerry lange Zeit nur Klicken und Knattern, bis eine langsame Südstaatenstimme sagte: »Urquhart ist im Moment nicht da. Mein Name ist Masters. Wer spricht?«
»Urquhart und ich trafen uns letzten Sommer beim Lagebericht von General Crosse«, sagte Jerry, »Na, dann trafen wir zwei uns auch«, sagte die erstaunlich langsame Stimme, die ihn an Deathwish erinnerte. »Zahlen Sie Ihr Taxi. Komme gleich. Blauer Jeep. Warten Sie, bis Sie das Weiße in seinen Augen sehen.«
Langes Schweigen folgte, vermutlich während die Codewörter Urquhart und Crosse auf der Liste nachgesehen wurden. Auf dem Gelände herrschte ein ständiges Hin und Her von Flugpersonal, Schwarzen und Weißen in getrennten, finster blickenden Gruppen. Ein weißer Offizier kam vorbei. Die Schwarzen entboten ihm den Gruß von Black Power. Der Offizier erwiderte ihn zögernd. Die Mannschaften trugen, ähnlich wie Charlie Marshall, aufgenähte Abzeichen an den Uniformen, meist mit Werbesprüchen für Drogen. Die Stimmung war mürrisch, niedergeschlagen, latent gewalttätig. Die Thai-Soldaten grüßten niemanden. Niemand grüßte die Thais. Ein blauer Jeep kam mit Blinklicht und heulender Sirene am Schlagbaum angeschlittert. Der Sergeant ließ Jerry passieren. Eine Sekunde später rasten sie in halsbrecherischem Tempo über die Rollbahn auf eine lange Reihe niedriger weißer Baracken in der Mitte des Flugplatzes zu. Der Fahrer war ein schlaksiger Junge, ganz offensichtlich ein Neuling. »Sind Sie Masters?« fragte Jerry;
»Nein, Sir. Ich trage nur das Gepäck des Majors, Sir«, sagte er. Immer noch mit Blinklicht und ständig heulender Sirene fuhren sie an einem drittklassigen Baseballspiel vorüber. »Großartige Legende«, sagte Jerry.
»Was meinen Sie, Sir?« schrie der Junge über den Lärm hinweg. »Ach, nichts.«
Es war nicht gerade die größte Luftbasis. Jerry hatte größere gesehen. Sie kamen an Reihen von Phantomjägern und Hubschraubern vorbei, und als sie sich den weißen Baracken näherten, erkannte Jerry unter ihnen einen separaten Spukhaus-Komplex, mit eigenen Gebäuden und Funkantennen und einer eigenen kleinen Luftflotte aus schwarzbemalten Kleinflugzeugen, die vor dem Abzug Gott weiß wen Gott weiß wo abgesetzt und aufgefischt hatte.
Sie traten durch eine Seitentür ein, die der Junge aufschloß. Der kurze Korridor war leer und still. An seinem Ende eine offene Tür aus der traditionellen Rosenholz-Imitation. Masters trug eine kurzärmelige Luftwaffenuniform mit wenigen Abzeichen. Er hatte Orden und den Rang eines Majors, und Jerry tippte auf einen paramilitärischen Vetter, vielleicht nicht einmal Berufsoffizier. Er war fahl und drahtig, hatte einen bitteren, verkniffenen Mund und hohle Wangen. Er stand vor einer Kaminattrappe unter der Reproduktion eines Bildes von Andrew Wyeth und wirkte seltsam still und isoliert. Man hatte den Eindruck, er gebe sich absichtlich langsam, weil ringsum alles in Eile war. Der Junge besorgte die Vorstellung und zögerte dann. Masters glotzte ihn an, bis er hinausging, dann wandte er die farblosen Augen zu dem Rosenholztisch, auf dem Kaffee bereitstand. »Sehen aus, als könnten Sie ein Frühstück gebrauchen«, sagte Masters.
Er goß Kaffee ein und bot Doughnuts an, alles im Zeitlupentempo.
»Dann redet sich's leichter«, sagte er, »Stimmt«, pflichtete Jerry bei.
Auf dem Schreibtisch stand eine elektrische Schreibmaschine, daneben lag einfaches Papier. Masters marschierte steifbeinig zu seinem Stuhl und hockte sich auf die Lehne. Er nahm ein Exemplar von Stars and Stripes zur Hand und las demonstrativ, während Jerry sich am Schreibtisch niederließ.
»Höre, Sie erobern das Ganze für uns mit der linken Hand wieder zurück«, sagte Masters in Richtung Sfars and Stripes. »Sehr schön.«
Anstatt die elektrische Schreibmaschine zu benutzen, stellte Jerry seine Reisemaschine auf den Tisch und hackte seinen Bericht in raschen Salven herunter, die ihm immer lauter vorkamen, je weiter sein Werk vorrückte. Vielleicht kam es auch Masters so vor, denn er blickte häufig auf, wenn auch nur bis in Höhe von Jerrys Händen und der Spielzeugschreibmaschine. Jerry gab ihm das Blatt.
»Ihre Anweisung lautet, daß Sie hierbleiben«, sagte Masters, wobei er jedes Wort bedächtig artikulierte. »Ihre Anweisung lautet, daß Sie hierbleiben, während wir Ihr Funktelegramm weitergeben. Mann, und wie wir dieses Telegramm weitergeben! Ihre Anweisung lautet, hierzubleiben zwecks Bestätigung und Entgegennahme weiterer Instruktionen. Klar? Ist das klar, Sir?«
»Klar«, sagte Jerry.
»Zufällig schon die gute Nachricht gehört?« erkundigte sich Masters. Sie standen einander gegenüber, keinen Meter von einander entfernt. Masters starrte auf Jerrys Telegramm, aber seine Augen schienen nicht den Zeilen zu folgen. »Was denn für eine Nachricht, altes Haus?«
»Wir haben soeben den Krieg verloren, Mr. Westerby. Yes, Sir. Die Letzten der Tapferen haben sich gerade von einem Heli vom Dach der Botschaft in Saigon runterkratzen lassen, wie eine Bande Blödmänner, die mit runtergelassenen Hosen in einem Puff geschnappt werden. Vielleicht interessiert es Sie gar nicht. Hund des Botschafters ist gerettet, wird Sie freuen zu hören. Journalist ließ ihn auf seinem Schoß mitfliegen. Vielleicht interessiert Sie das auch nicht. Vielleicht sind Sie kein Hundefreund. Vielleicht mögen Sie Hunde ungefähr so gern, wie ich persönlich Journalisten mag, Mr. Westerby, Sir.«