Vor dem Aufbruch der Hongkong-Reisenden aus dem Circus herrschte festliche Stimmung, die durch die geheimnisvollen Vorbereitungen noch gesteigert wurde. Die Nachricht von Jerrys Wiederauftauchen hatte sie ausgelöst. Der Inhalt seines Fernschreibens intensivierte sie noch und fiel mit einer Meldung der Vettern zusammen, wonach Drake Ko seine sämtlichen gesellschaftlichen und geschäftlichen Verabredungen abgesagt und sich in die Abgeschiedenheit seines Hauses Seven Gates an der Headland Road zurückgezogen habe. Ein Foto von Ko, per Teleobjektiv aus dem Observierungswagen der Vettern aufgenommen, zeigte ihn im Viertelprofil, wie er in seinem großen Garten am Ende einer Rosenpflanzung stand und aufs Meer hinausblickte. Die Betondschunke sah man nicht, aber Ko trug seine viel zu große Baskenmütze.
»Wie ein moderner Gatsby, mein Lieber!« rief Connie Sachs entzückt, als sie sich alle über das Foto beugten. »Schmachtet hinüber zu dem blöden Licht an der Pier, oder was der arme Tropf sonst getan hat!«
Als der Observierungswagen zwei Stunden später wieder des Wegs kam, stand Ko noch immer in der gleichen Haltung da, also machten sie kein zweites Foto mehr. Viel bedeutsamer war die Tatsache, daß Ko das Telefon überhaupt nicht mehr benutzte - jedenfalls nicht die Apparate, die die Vettern angezapft hatten. Auch Sam Collins schickte einen Bericht, den dritten kurz nacheinander, aber den bisher bei weitem längsten. Wie üblich kam er in einem Spezialumschlag, der an Smiley persönlich adressiert war, und wie üblich besprach Smiley den Inhalt nur mit Connie Sachs. Und genau in dem Augenblick, als die Reisenden zum Flugplatz von London aufbrechen wollten, traf noch eine Botschaft von Martello ein, des Inhalts, daß Tiu aus China zurückgekehrt und zur Zeit mit Ko in der Headland Road in Klausur sei.
Aber die wichtigste Zeremonie, soweit Guillam sich damals und später erinnern konnte, und die verwirrendste, war ein kleiner Kriegsrat in Martellos Räumen im Annex, zu dem sich ausnahmsweise nicht nur das gewohnte Quintett Martello, seine beiden schweigsamen Männer sowie Smiley und Guillam einfanden, sondern auch Lacon und Enderby, die bezeichnenderweise mit dem gleichen Dienstwagen ankamen. Zweck dieser - von Smiley berufenen - Versammlung war die formelle Schlüsselübergabe. Martello sollte jetzt ein vollständiges Bild vom »Unternehmen Delphin« bekommen, einschließlich der hochwichtigen Verbindungen zu Nelson. Er sollte als vollgültiger Partner eingewiesen werden - abgesehen von einigen kleineren Auslassungen, die erst später bekannt wurden. Wie Lacon und Enderby sich hatten eindrängen können, erfuhr Guillam nie genau, und Smiley war später in diesem Punkt verständlicherweise zurückhaltend. Enderby erklärte rundweg, er sei »im Interesse der Ordnung und der militärischen Disziplin« mitgekommen. Lacon wirkte farbloser und herablassender denn je. Guillam hatte den deutlichen Eindruck, daß sie etwas im Schilde führten, und dieser Eindruck wurde noch verstärkt durch die Vorstellung, die Enderby und Martello gaben: die frischgebackenen Busenfreunde ignorierten einander so völlig, daß sie Guillam an ein heimliches Liebespaar erinnerten, das am gemeinsamen Frühstück in einem Landhaus teilnimmt, eine Situation, in der er selber sich schon häufig befunden hatte.
Es sei der Maßstab der Sache, erklärte Enderby einmal. Sie habe solche Ausmaße angenommen, daß er wirklich meine, ein paar große Tiere sollten mitmischen. Dann wieder erklärte er, es sei die Kolonial-Lobby. Wilbraham mache Stunk beim Schatzamt. »So, jetzt haben wir also den ganzen Plunder gehört«, sagte Enderby, als Smiley seinen ausführlichen Überblick beendet hatte und Martellos Lobsprüche fast das Dach zum Einstürzen gebracht hätten. »Wer hat jetzt den Finger am Abzug, George, Punkt eins?« wollte er wissen, und daraufhin wurde die Besprechung vorwiegend Enderbys große Show, was Besprechungen mit Enderby gewöhnlich wurden. »Wer gibt den Feuerbefehl, wenn es zum Treffen kommt? Sie, George? Immer noch? Ich meine, Sie haben gute Planungsarbeit geleistet, zugegeben, aber unser alter Marty hier liefert schließlich die Artillerie, nicht wahr?« Worauf Martello sich taub stellte, ein strahlendes Lächeln ausgoß über all die großartigen und reizenden Briten, mit denen verbündet zu sein er die Ehre hatte, und Enderby weiterhin die grobe Arbeit tun ließ.
»Marty, wie sehen Sie diesen Punkt?« drängte Enderby, als hätte er selber keine Ahnung; als ginge er nie mit Martello angeln oder gäbe üppige Diners für ihn oder diskutierte mit ihm privat streng geheime Angelegenheiten.
In diesem Augenblick kam Guillam eine seltsame Erkenntnis, und später machte er sich Vorwürfe, daß er sie so wenig genutzt hatte. Martello wußte es. Die Enthüllungen über Nelson, über die Martello sich so völlig perplex gab, waren überhaupt keine Enthüllungen, sondern nur die Bestätigung von Informationen, die er und seine schweigsamen Männer längst besaßen. Guillam las es in ihren blassen hölzernen Gesichtern und den aufmerksamen Augen. Er las es aus Martellos Überschwang. Martello wußte alles.
»Äh, technisch ist es Georges Show, Saul«, erinnerte Martello loyalerweise Enderby in Beantwortung seiner Frage, aber mit gerade genug Nachdruck auf dem Wort technisch, um das übrige in Frage zu stellen. »George steht auf der Brücke, Saul. Wir heizen nur die Kessel.«
Enderby setzte ein unglückliches Stirnrunzeln auf und steckte ein Streichholz zwischen die Zähne.
»George, wie paßt Ihnen das? Paßt es Ihnen, so wie es ist? Daß Marty den Feuerschutz liefert, vor Ort alles bereithält, Kommunikationsmittel, die ganze Verschwörungsarbeit, Observierung, das Gelände in Hongkong sondieren und was weiß ich noch alles? Und Sie geben den Feuerbefehl? Muß schon sagen! Käme mir vor wie im fremden Frack rumzustolzieren.«
Smiley hielt sich gut, aber nach Guillams Meinung nahm er die Frage viel zu ernst und die kaum verhüllte Durchstecherei längst nicht ernst genug.
»Ganz und gar nicht«, sagte Smiley. »Martello und ich haben ein klares Abkommen getroffen. Die Speerspitze der Operation wird von uns dirigiert. Falls Unterstützung erforderlich ist, springt Martello ein. Das Produkt wird geteilt. Was den Gewinnanteil für die amerikanische Investition angeht, so wird er nach Erhalt des Produktes ausgeschüttet. Die Verantwortung dafür, daß ein solches Produkt anfällt, liegt nach wie vor bei uns.« Er schloß energisch: »Das Schreiben, worin das alles genau ausgeführt ist, liegt natürlich schon längst bei den Akten.«
Enderby sah Lacon an. »Oliver, Sie sagten, Sie würden es mir schicken. Wo ist es geblieben?«
Lacon legte den länglichen Kopf zur Seite und lächelte trübselig ins Leere. »Treibt sich irgendwo in Ihren hinteren Räumen herum, nehme ich an, Saul.«
Enderby versuchte es mit einer anderen Taktik. »Und ihr beiden da könnt euch vorstellen, daß der Handel unter allen Umständen gültig bleibt, ja? Ich meine, wer sorgt für die sicheren Häuser und so weiter? Begräbt die Toten, all das?«
Wiederum Smiley. »Housekeeping Section hat bereits ein Haus auf dem Land gemietet und bereitet alles für künftige Bewohner vor«, sagte er ungerührt.
Enderby nahm das besabberte Streichholz aus dem Mund und zerbrach es über dem Aschenbecher. »Hätten meines haben können, wenn Sie was gesagt hätten«, murmelte er zerstreut. »Mengen von Zimmern. Kein Mensch je dort. Personal. Alles.« Aber seine Sorge galt dem anderen Thema. »Hören Sie. Beantworten Sie mir diese Frage. Ihr Mann dreht durch. Er türmt und rennt durch die Gassen von Hongkong. Wer spielt Räuber und Gendarm, um ihn wieder einzufangen?« Nicht antworten! betete Guillam. Er hat überhaupt kein Recht, so um sich zu dreschen! Sag ihm, er soll sich zum Teufel scheren! Smileys Antwort war zwar entschieden, ermangelte indes der Hitzigkeit, die Guillam sich gewünscht hätte. »Ach, ich glaube, Hypothesen kann man immer aufstellen«, konterte er milde. »Ich glaube, hier kann man lediglich sagen, daß Martello und ich in einem solchen Fall gemeinsam überlegen und nach bestem Ermessen handeln würden.«