»Sie haben unrecht, altes Haus. Weiß nicht wie, weiß nicht warum, aber Sie haben unrecht. Na ja, vermutlich ist es jetzt schon zu spät.« Wieder wurde ihm übel und sein Schädel dröhnte von den Schmerzen in seinem Körper. »Bloß einen Fußbreit näher«, sagte er zu Fawn, »und ich brech dir endgültig dein verdammtes Genick, verstanden?« Er wandte sich wieder an Smiley, der noch in genau der gleichen Haltung dastand und durch nichts erkennen ließ, ob er etwas gehört hatte. »Also dann, alles Gute«, sagte Jerry.
Mit einem letzten Nicken, das jedoch nicht dem Mädchen galt, hinkte Jerry hinaus in den Korridor, Fawn hinterher. Als sie auf den Lift warteten, sah er den eleganten Amerikaner unter seiner offenen Wohnungstür stehen und seinen Abtransport beobachten.
»Ach ja, Sie hätte ich fast vergessen«, rief Jerry sehr laut. »Sie sorgen für die Wanzen in ihrer Wohnung, wie? Die Briten erpressen sie, und die Yankees belauschen sie, das Glückskind kriegt's von allen Seiten.«
Der Amerikaner verschwand und schloß rasch die Tür hinter sich. Der Lift kam und Fawn stieß ihn hinein.
»Hände weg«, warnte ihn Jerry. »Der Name dieses Herrn hier ist Fawn«, teilte er den übrigen Liftbenutzern in lauter Stimme mit. Die meisten trugen Smoking und Pailettenkleider. »Er arbeitet beim britischen Geheimdienst und hat mir gerade vorhin die Eier poliert. Die Russen kommen«, schrie er in die teigigen gleichgültigen Gesichter. »Sie werden euch euer ganzes verdammtes Geld wegnehmen.«
»Besoffen«, sagte Fawn angewidert.
In der Halle beäugte ihn Lawrence, der Portier, mit deutlichem Interesse. Vor der Tür wartete eine blaue Peugeot-Limousine. Peter Guillam saß am Steuer. »Einsteigen«, herrschte er Jerry an.
Die Tür zum Beifahrersitz war abgeschlossen. Jerry kletterte in den Fond, Fawn folgte.
»Was zum Teufel fällt Ihnen denn eigentlich ein?« fragte Guillam durch die zusammengebissenen Zähne. »Seit wann reißen lausige Tagelöhner mitten in der Operation das Steuer herum?«
»Vorsicht«, warnte Jerry Fawn. »Bloß ein falscher Blick, und es kracht. Mein voller Ernst. Ich warne Sie. Offiziell.« Der Bodennebel war wieder eingefallen und wallte über den Kühler. Die vorüberhuschende Stadt präsentierte sich wie Bildausschnitte aus einem Trödelmarkt: ein gemaltes Bild, ein Schaufenster, Kabelstränge, die von einer Neonlampe hingen, ein Büschel erstickten Laubwerks; die unvermeidliche Baustelle unter Flutlicht. Im Spiegel sah Jerry einen schwarzen Mercedes nachfolgen, männlicher Fahrgast, männlicher Fahrer. »Die Vettern bilden das dicke Ende«, verkündete er. Ein Schmerzanfall im Unterleib ließ ihn fast ohnmächtig werden, und einen Moment lang glaubte er tatsächlich, Fawn habe ihn wieder geschlagen, doch es war noch die Nachwirkung vom erstenmal. In der Central Street bat er Guillam, anzuhalten, und kotzte vor den Augen der Passanten in den Rinnstein. Während er den Kopf durchs Fenster streckte, kauerte Fawn über ihm. Der Mercedes hinter ihnen hielt ebenfalls.
»Geht nichts über ein bißchen Schmerz«, rief er und setzte sich wieder hin, »damit das alte Hirn ab und zu wieder in Schwung kommt. Was, Peter?«
Guillam, der vor Zorn kochte, gab eine obszöne Antwort. »Sie verstehen nicht, was vorgeht, hatte Smiley gesagt. Wie sehr Sie alles durcheinanderbringen können. Milliarden Dollar und Tausende von Menschen könnten nicht einen Bruchteil dessen erobern, was wir zu gewinnen haben . . . « Wie? fragte er sich immer wieder. Was zu gewinnen? Nelsons Stellung in China war ihm nur andeutungsweise bekannt. Craw hatte ihm nur gesagt, was er unbedingt wissen mußte: Nelson hat Zugang zu den Kronjuwelen von Peking, Ehrwürden. Wer Nelson zu fassen kriegt, hat sich selber und seinem edlen Geschlecht unsterbliches Verdienst erworben.
Sie umrundeten den Hafen und hielten auf den Tunnel zu. Von Seehöhe aus wirkte der amerikanische Flugzeugträger seltsam klein vor der fröhlichen Kulisse von Kaulun. »Wie wird Ko ihn übrigens rausholen?« fragte er Guillam beiläufig. »Mit dem Flugzeug wird er's nicht noch einmal versuchen, soviel steht fest. Dafür hat Ricardo gesorgt, wie?«
»Rauskitzeln«, fauchte Guillam. Das war dumm von ihm, dachte Jerry triumphierend, er hätte nichts sagen dürfen, hätte die Klappe halten müssen.
»Soll er vielleicht schwimmen?« fragte Jerry. »Nelson durchquert Miss Bay. Dos ist doch nicht Drakes Stil, wie? Und überhaupt ist Nelson zu alt dafür. Würde erfrieren, sogar wenn die Haifische das Beste an ihm dranließen. Wie wär's mit dem Schweinetreck; wie wär's, wenn er mit den Grunzern rauskäme? Tut mir leid, daß Sie den großen Augenblick verpassen müssen, altes Haus, alles meine Schuld.«
»Mir tut's auch leid, wenn Sie's genau wissen wollen. Am liebsten würde ich Ihnen die Zähne einschlagen.«
In Jerrys Hirn ertönte ein Triumphmarsch. Es stimmt! dachte er. Darum geht es! Drake holt Nelson raus, und die ganze Bande steht schon Schlange für's Finish!
Hinter Guillams Lapsus - nur ein ei ziges Wort, aber nach den Maßstäben von Sarratt ganz unverzeihlich, absolut regelwidrig - kam eine Enthüllung zum Vorschein, so verwirrend wie alles, was Jerry zur Zeit erlebte, und in mancher Hinsicht noch weit bitterer. Wenn es für das Verbrechen der Indiskretion überhaupt einen mildernden Umstand gab - nach den Maßstäben von Sarratt gab es keinen -, dann lieferten ihn Guillams Erlebnisse während der letzten Stunde, die er teils damit verbracht hatte, Smiley im Höllentempo durch den Verkehr der rush hour zu kutschieren, teils im Wagen vor dem Eingang von Star Heights, in verzweifeltem ungewissem Warten. Alles, was er in London befürchtet hatte, seine schaurigsten Ahnungen in bezug auf die Enderby-Martello-Verbindung und die Rollen, die Lacon und Collins dabei spielten, hatten sich in diesen sechzig Minuten als zweifelsfrei richtig, wahr und berechtigt erwiesen, allenfalls als leicht untertrieben.
Zuerst waren sie zur Bowen Road in den Midlevels gefahren, zu einem so anonymen und nichtssagenden, riesigen Häuserblock, daß sogar die Bewohner die Hausnummern zweimal ansehen mußten, um sich nicht in ihrer eigenen Tür zu irren. Smiley drückte auf eine Klingel neben dem Namensschild Mellon, und Guillam fragte idiotischerweise: »Wer ist Mellon?«, im gleichen Augenblick, als ihm einfiel, daß es Sam Collins' Arbeitsname war. Aber welcher Wahnsinnige - so fragte er sich, nicht Smiley, mit dem er inzwischen den Lift betreten hatte - konnte auf die Idee verfallen, nach allen Verwüstungen, die Haydon angerichtet hatte, wieder den gleichen Arbeitsnamen zu benutzen, den dieser vor dem Sündenfall gehabt hatte? Dann öffnete Collins ihnen die Tür: er trug einen Morgenrock aus Thai-Seide, hatte eine braune Zigarette in der Spitze stecken und sein waschbares, bügelfreies Lächeln aufgesetzt. Schon hatten sie in einem Wohnzimmer mit Bambussesseln Platz genommen und Sam hatte zwei Transistor-Radios auf verschiedene Programme eingestellt, eine Wortsendung und ein Konzert, um während ihrer Unterhaltung wenigstens eine primitive Lauschabwehr zu sichern. Sam hörte zu - von Guillam nahm er keinerlei Notiz -, dann rief er unverzüglich Martello auf der direkten Leitung an - Sam hatte einen direkter Draht zu Martello, bitte zu beachten, kein Wählen, nichts, bloß den Hörer abheben - und fragte in verschlüsselten Wendungen, »wie es mit Chummy stehe«. Chummy, so erfuhr Guillam später, war unter Zockern ein Slangwort für Gimpel. Martello erwiderte, der Observierungswagen habe sich soeben zurückgemeldet. Chummy und Tiu säßen zur Zeit in Causeway Bay an Bord der Admiral Nelson, sagten die Observanten, und die Richtmikrophone nähmen (wie üblich) soviel Wasserklatschen auf, daß die Techniker Tage, wenn nicht Wochen brauchen würden, um die Nebengeräusche herauszufiltern und festzustellen, ob die beiden Männer überhaupt irgend etwas Interessantes gesagt hatten. Inzwischen sei ein Mann am Kai als statischer Observierungsposten mit dem Befehl zurückgelassen worden, Martello unverzüglich zu benachrichtigen, falls das Schiff die Anker lichten oder einer der beiden Obengenannten an Land gehen sollte. »Dann müssen wir sofort hin«, sagte Smiley. Also drängten sie sich wieder in den Wagen, und während Guillam dickurze Strecke nach Star Heights fuhr, vor sich hinkochte und hilflos der knappen Unterhaltung zu folgen versuchte, festigte sich mit jeder Sekunde seine Überzeugung, daß er ein Spinnennetz vor sich habe und daß nur George Smiley, besessen von der Verheißung des Unternehmens und von Karlas Bild, so kurzsichtig und vertrauensselig, und, auf seine besondere bizarre Art, auch so unschuldsvoll sein konnte, geradewegs mittenhinein zu stolpern. Georges Alter, dachte Guillam. Enderbys politischer Ehrgeiz, seine Vorliebe für den pro-amerikanische Falken-Stil - ganz zu schweigen von der Kiste Champagner und seiner übertriebenen Beweihräucherung der hinten Etage. Lacons halbherzige Unterstützung Smileys, während er insgeheim das Auge schweifen ließ und einen Nachfolger suchte. Martellos Zwischenlandung in Langley. Enderbys Versuch, erst vor ein paar Tagen, Smiley aus dem Unternehmen auszubooten und es Martello auf dem Präsentierteller zu servieren. Und jetzt, und das war das Beredtste und Bezeichnendste von allem, das Wiederauftauchen von Sam Collins als Joker im Spiel, mit einem direkten Draht zu Martello! Und Martello, der Himmel sei uns gnädig!, stellte sich an, als wüßte er nicht, woher George seine Informationen bezog - als gäbe es keinen direkten Draht.