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Irgendein Knüller, soviel stand fest, aber was für einer? Er erbrach sich nochmals, dann linste er aus dem Fenster. Die Dschunken waren hinter den Schutzmauern vertäut, und die Star Ferry hatte den Betrieb eingestellt. Eine altgediente britische Fregatte dümpelte vor Anker und im Club ging das Gerücht, Whitehall wolle sie verkaufen.

»Sollte in See stechen«, brabbelte Luke wirr, denn er entsann sich einigen Seemannsgarns, das er auf seinen Reisen aufgeschnappt hatte. »Fregatten stechen auch bei Taifun in See. Yes Sir.« Die Hügel waren schiefergrau unter den schwarzen Wolkenschichten. Vor einem halben Jahr hätte Luke bei diesem Anblick vor Wonne geschnurrt. Den Hafen, das Getöse, sogar die Hochhausschuppen, die vom Strand bis zum Peak, zur Hügelspitze, hinaufklommen: nach Saigon hatte er die ganze Szenerie jubelnd begrüßt. Aber heute sah er nur noch einen satten, reichen, britischen Felsen in den Händen einiger feister Krämer, die nicht über die eigenen Wänste hinaussahen. Die Kolonie war daher für ihn genau das geworden, was sie für die übrigen Journalisten längst war: ein Flugplatz, ein Telefon, eine Wäscherei, ein Bett. Dann und wann - aber niemals für lange - eine Frau. Sogar die Erfahrungen mußte man importieren. Und die Kriege, die so lange Zeit hindurch seine Droge gewesen waren: sie waren von Hongkong genauso weit entfernt wie von London oder New York. Nur die Börse reagierte andeutungsweise, aber am Sonnabend war sie ohnehin geschlossen.

»Meinst du, du wirst's überleben, Goldjunge?« fragte der strubbelige kanadische Cowboy, der an die Piß-Schüssel nebenan trat. Die beiden Männer hatten die Freuden der Tet-Offensive geteilt.

»Danke, mein Lieber, ich bin in ausgesprochner Hochform«, erwiderte Luke mit seinem übertriebensten englischen Akzent. Luke kam zu dem Schluß, daß er sich unbedingt an das erinnern müsse, was Jake Chiu am Vormittag beim Bier zu ihm gesagt hatte, und plötzlich fiel es ihm wie ein Geschenk des Himmels wieder ein.

»Ich hab's«, schrie er. »Herrgott, Cowboy, ich weiß es wieder! Luke, du weißt es wieder! Mein Gehirn! Es funktioniert! Leute, alle mal herhören!«

»Vergiß es!« riet ihm der Cowboy. »Da draußen herrscht heute dicke Luft, Goldjunge. Was es auch sein mag, vergiß es.« Aber Luke trat die für auf und rannte mit ausgebreiteten Armen in die Bar.

»Heh! Heh! Leute!«

Niemand wandte den Kopf. Luke formte die Hände zu einem Megaphon:

»Hört zu, ihr besoffenen Strolche, ich hab ne Neuigkeit. Zwei Flaschen Whisky am Tag undn Gehirn wien Rasiermesser. Ist das nicht fabelhaft? Wo is die Bimmel?«

Da er keine fand, griff er sich ein Bierseidel und hämmerte damit gegen die Theke, daß das Bier überschwappte. Auch dann geruhte nur der Zwerg, von ihm Notiz zu nehmen. »Na, wo brennt's denn, Luide?« näselte der Zwerg mit seinem Greenwich-Village-Akzent. »Hat Big Moo wiedermal den Schluckauf? Bricht mir das Herz.«

Big Moo nannten sie im Clubjargon den Gouverneur, und der Zwerg war Lukes Bürochef. Ein formloser, mürrischer Mensch mit wirrem Haar, das ihm in schwarzen Strähnen ins Gesicht fiel, und der Angewohnheit, wie aus dem Nichts neben einem aufzutauchen. Vor einem Jahr hatten ihn ein paar Franzosen, die man sonst hier selten sieht, wegen einer beiläufigen Bemerkung über den Ursprung des Vietnam-Fiaskos beinah umgebracht. Sie zerrten ihn zum Lift, brachen ihm den Kiefer und mehrere Rippen, dann kippten sie ihn im Erdgeschoß wie ein lebloses Bündel heraus und kehrten zu ihren Gläsern zurück. Kurz darauf wurde ihm eine ähnliche Behandlung von Seiten der Australier zuteil, als er eine absurde Äußerung betreffs ihrer militärischen Rolle in diesem Krieg zum besten gab. Er behauptete, Canberra habe mit Präsident Johnson vereinbart, daß die australischen Jungens in Vung Tau bleiben sollten, einem wahren Picknickplätzchen, während die Amerikaner anderswo den wirklichen Krieg führten. Im Gegensatz zu den Franzosen verschmähten die Australier den Lift. Sie prügelten den Zwerg einfach an Ort und Stelle windelweich, und als er zu Boden ging, bekam er noch eine Zugabe. Danach hatte er begriffen, wann er den Leuten in Hongkong aus dem Weg gehen mußte. Zum Beispiel bei lang anhaltendem Nebel. Oder wenn es nur vier Stunden am Tag Wasser gab. Oder an einem Sonnabend während des Taifuns. Im übrigen war der Club recht leer. Die Starkorrespondenten hielten sich aus Prestigegründen ohnehin fern. Ein paar Geschäftsleute, die wegen der um die Pressemänner herrschenden Atmosphäre kamen, ein paar Mädchen, die der Männer wegen kamen. Eine Handvoll Fernseh-Kriegstouristen in imitierten Kampfanzügen. Und, in seiner Stammecke, der furchterregende Rocker, Polizei-Superintendent und ehemaliger Palästina-, Kenia-, Malaya- und Fidji-Kämpfer, ein erbarmungsloses Schlachtroß mit einem Bier, einer Garnitur leicht geröteter Fingerknöchel und einer Wochenendausgabe der South China Morning Post. Der Rocker, so sagten die Leute, komme aus Standesgründen. Und an dem großen Mitteltisch, der an Wochentagen das Reservat von United Press International war, lungerte der Shanghai Junior Baptist Conservative Bowling Club unter dem Vorsitz des gescheckten alten Australiers Craw und gab sich dem üblichen Sonnabendturnier hin. Bei diesem Kampf ging es darum, eine zusammengedrehte Serviette quer durch den Raum segeln und im Weinregal landen zu lassen. Bei jedem Treffer stifteten die Mitspieler dem Torschützen die betreffende Flasche und halfen sie ihm leeren. Old Craw knurrte die Schießbefehle, und ein ältlicher Kellner aus Schanghai, der bei Craw einen Stein im Brett hatte, bestückte müde den Schießstand und servierte die Preise. An diesem Tag fehlte dem Spiel die Würze; ein paar Mitglieder beteiligten sich überhaupt nicht. Dennoch wählte Luke gerade diesen Kreis als sein Publikum.

»Die Frau von Big Moo hatn Schluckauf!« quengelte der Zwerg weiter. »Das Pferd von der Frau von Big Moo hatn Schluckauf! Der Stallknecht vom Pferd von der Frau von Big Moo hatn Schluckauf! Das . . . «

Luke marschierte zum Tisch, sprang mit einem Satz darauf, daß er krachte; ein paar Gläser zerbrachen, und Lukes Kopf rammte die Decke. Die leicht gebückte Gestalt hob sich überlebensgroß vor dem Südfenster ab: der suppige Nebel, dahinter der dunkle Schatten des Peak und dieser schwarze Riese, der den ganzen Vordergrund ausfüllte. Aber die Männer warfen und tranken weiter, als hätten sie ihn nicht gesehen. Nur der Rocker blickte ein einzigesmal in Lukes Richtung, ehe er seinen riesigen Daumen ableckte und zur Witzseite umblätterte.

»Dritte Runde!« kommandierte Craw mit seinem kräftigen australischen Akzent. »Bruder Kanada, Feuer frei. Warte, du Knallkopf. Feuer!«

Eine zusammengedrehte Serviette segelte im hohen Bogen zum Regal. Fand eine Lücke, verhakte sich eine Sekunde lang, glitt ab, flatterte zu Boden. Luke, vom Zwerg angestachelt, begann auf den Tisch zu stampfen und warf noch ein paar Gläser um. Schließlich gab sein Publikum den Widerstand auf. »Ehrwürdens«, sagte Old Craw seufzend, »darf ich um Aufmerksamkeit bitten für meinen Sohn. Ich fürchte, er hat uns etwas mitzuteilen. Bruder Luke, du hast heute mehrere Friedensbrüche begangen, jeder weitere wird unserer ernsten Mißbilligung begegnen. Sprich klar und knapp und lasse nichts aus, auch nicht die geringste Kleinigkeit, und dann halt die Luft an.« In ihrer unermüdlichen gegenseitigen Mythenstrickerei hatten sie Old Craw den »Ancient Mariner« getauft. Craw habe sich, so erzählten sie einander, schon mehr Sand von den Hosen geklopft, als die meisten von ihnen je unter die Sohlen kriegen würden; und das stimmte. In Schanghai, wo seine Laufbahn begann, war er Tee-Boy und Lokalredakteur der einzigen englischsprachigen Zeitung der Hafenstadt gewesen. Seither berichtete er über den Kampf der Kommunisten gegen Tschiang Kaischek, den Kampf Tschiangs gegen die Japaner und die Kämpfe der Amerikaner gegen nahezu alle anderen. Craw vermittelte ihnen eine Art Geschichtsbewußtsein in dieser wurzellosen Stadt. Seine Redeweise, die an Taifuntagen sogar den Abgehärtetsten verzeihlicherweise auf die Nerven fallen konnte, war ein echtes Relikt aus den dreißiger Jahren, als Australien den Großteil der Journalisten im Fernen Osten stellte und der Vatikan aus unerfindlichen Gründen den Jargon ihrer Gemeinde.