»Oh, wir hängten die Lampe wieder über die Tür, ja. Fünfundvierzig frohlockten wir, wie alle Leute. Der Kampf war vorbei, die Japse waren geschlagen, die Flüchtlinge konnten wieder nach Hause. Umarmungen auf offener Straße, das Übliche eben. Wir hatten Geld, Wiedergutmachung glaube ich, einen Zuschuß. Daisy Fong kam zurück, aber nicht für lange. Die ersten paar Jahre ging es nach außen hin gut, aber auch nicht wirklich. Wir blieben, solange Tschiang Kaischek sich an der Regierung halten konnte - na ja, darin war er nie besonders groß gewesen, wie? Siebenundvierzig machte sich der Kommunismus schon überall bemerkbar - und neunundvierzig war er endgültig da. Die internationale Kolonie war natürlich längst verschwunden, die Konzessionen auch, nicht schade drum. Der Rest ging langsam dahin. Wie üblich gab es Leute, die nichts sehen wollten, die sagten, das alte Schanghai werde ewig leben, genau wie sie es mit den Japsen machten. Schanghai habe die Mandschus verdorben, sagten sie; die warlords, die Kuomintang, die Japaner, die Briten.
Jetzt werde es die Kommunisten verderben. Natürlich hatten sie unrecht. Doris und ich - wir glaubten nicht ans Verderben, wie, nicht als Lösung für die Probleme Chinas, deine Mutter auch nicht. Also kamen wir wieder heim.«
»Und die Kos?« erinnerte Connie ihn, während Doris geräuschvoll ein Strickzeug aus einer braunen Papiertüte zog. Der alte Mann zögerte, und diesmal hemmte vielleicht nicht die Senilität den Fluß seiner Erzählung, sondern der Zweifel. »Nun ja«, gab er schließlich nach einer verlegenen Pause zu. »Ja, seltene Abenteuer hatten sie, diese beiden, das kann ich Ihnen sagen.«
»Abenteuer«, echote Doris zornig und klapperte mit den Stricknadeln. »Exzesse würde ich sagen.«
Das letzte Tageslicht heftete sich noch ans Meer, im Zimmer jedoch wurde es dunkel, und das Gasfeuer tuckerte wie fernes Motorengeräusch.
Auf der Flucht aus Schanghai wurden Drake und Nelson mehrmals getrennt, sagte der alte Mann. Wenn sie einander nicht finden konnten, verzehrten sie sich vor Gram, bis sie wieder beisammen waren. Nelson, der Junge, gelangte bis nach Tschung-king, überlebte Hunger, Erschöpfung und höllische Luftangriffe, denen Tausende von Zivilisten zum Opfer fielen. Aber Drake, der ältere, wurde zu Tschiangs Armee eingezogen, obwohl Tschiang nichts tat als auszukneifen, in der Hoffnung, Kommunisten und Japaner würden sich gegenseitig umbringen. »Ist in der ganzen Landschaft rumgebraust, unser Drake, um die Front zu finden, und hat sich um Nelson halb totgesorgt. Und Nelson natürlich, der drehte in Tschungking die Daumen, ja, und büffelte in seinen ideologischen Büchern. Sie hatten dort sogar die New China Daily, erzählte er mir später, mit Tschiangs Genehmigung gedruckt! Stellen Sie sich das vor! Es waren noch ein paar von seinen Gesinnungsgenossen in der Gegend, und in Tschungking steckten sie die Köpfe zusammen und bauten eine neue Welt für die Zeit nach Kriegsende, und eines Tages kam es denn auch, Gott sei Dank.«
Neunzehnhundertfünfundvierzig, sagte Mr. Hibbert schlicht, endete die Trennung durch ein Wunder: »Eine Möglichkeit unter Tausenden, ach was, unter Millionen. Die Straße in die Heimat wimmelte von Lastwagen, Karren, Truppen, Geschützen, alles strömte zur Küste, und Drake rannte die Kolonnen auf und ab wie ein Irrer: >Habt ihr meinen Bruder gesehen?<«
Das Drama jenes Augenblicks weckte plötzlich den Prediger in ihm, und seine Stimme wurde lauter.
»Und ein kleiner schmutziger Bursche faßte Drakes Ellbogen. >Da. Du. Ko.< Als bäte er ihn um Feuer. >Dein Bruder ist hinten im übernächsten Lastwagen und schwatzt ein paar Hakka-Kommunisten Löcher in die Bäuche.< Und schon liegen sie sich in den Armen, und Drake läßt Nelson nicht mehr aus den Augen, bis sie wieder in Schanghai sind, und danach auch nicht!«
»Und so kamen sie und machten Ihnen einen Besuch«, fiel Connie traulich ein.
»Als Drake wieder da war, hatte er nur eins im Sinn, und sonst gar nichts. Nelson sollte eine richtige Schulbildung bekommen. Nichts auf Gottes weiter Welt interessierte Drake, nur Nelsons Ausbildung. Nichts. Nelson mußte zur Schule gehen.« Die Hand des alten Mannes hämmerte auf die Sessellehne. »Wenigstens einer der Brüder mußte einen Abschluß haben. Oh, Drake war eisern! Und er schaffte es«, sagte der alte Mann schlicht. »Drake hat es geschaukelt. Das hat er. Er war ein richtiger Starrkopf geworden. Drake war neunzehn, als er aus dem Krieg zurückkam. Nelson war fast siebzehn, und er arbeitete gleichfalls Tag und Nacht - an seinen Studien natürlich. So wie Drake, nur daß Drake mit seinen Muskeln arbeitete.«
»Er wurde kriminell«, sagte Doris leise. »Er hat sich einer Bande angeschlossen und gestohlen. Wenn er nicht um mich herumstrich.«
Ob Mr. Hibbert sie gehört hatte oder ob er nur einen ihrer gängigen Vorwürfe beantwortete, wurde nicht klar. »Aber Doris, du mußt diese Triaden im Licht der Zeit sehen«, tadelte er sie. »Schanghai war ein Stadtstaat. Es wurde von einer Handvoll Wirtschaftskapitänen regiert, Hyänen und schlimmerem. Es gab keine Gewerkschaften, weder Gesetz noch Ordnung, das Leben war wenig wert und hart, und ich bezweifle, daß das Hongkong von heute sehr viel anders ist, wenn man bloß ein bißchen am Firnis kratzte. Neben einigen dieser sogenannten englischen Gentlemen wäre dieser berüchtigte Fabrikbesitzer von Lancashire ein leuchtendes Beispiel christlicher Nächstenliebe geworden.« Nachdem er diesen milden Vorwurf geäußert hatte, kehrte er zu Connie und seiner Erzählung zurück. Connie war ihm vertraut: der Archetypus der Dame auf der vordersten Kirchenbank: wuchtig, aufmerksam, mit Hut, und sie lauschte fromm einem jeden Wort des alten Mannes.
»Sie kamen immer gegen fünf Uhr zum Tee, wissen Sie, die beiden Brüder. Ich mußte alles bereit haben, das Essen auf dem Tisch, Limonade hatten sie gern, nannten sie Soda. Drake kam von den Docks, Nelson von seinen Büchern, und sie aßen fast schweigend, und dann ging's wieder an die Arbeit, nicht wahr, Doris? Sie hatten irgendeinen legendären Helden ausgegraben, den gelehrten Che Yin. Che Yin war so arm, daß er sich selber das Lesen und Schreiben beim Licht der Leuchtkäfer beibringen mußte. Sie redeten gern darüber, wie Nelson ihm nacheifern werde. >Los, Che Yin<, sagte ich immer. >Iß noch ein Brot, damit du bei Kräften bleibst.« Dann lachten sie ein bißchen, und schon waren sie wieder weg. >Bye-bye, Che Yin, weiter geht's.< Dann und wann, wenn er nicht gerade den Mund zu voll hatte, traktierte Nelson mich mit seiner Politik. Meine Güte, der Junge hatte vielleicht Ideen! Und von uns hat er sie nicht gelernt, das dürfen Sie mir glauben, wir wußten nicht genug. Geld sei die Wurzel allen Übels. Nun, das will ich nicht bestreiten! Habe es selber jahrelang gepredigt! Brüderlichkeit, Kameradschaft, aber: Religion ist Opium fürs Volk, also, da kam ich nicht mehr mit, aber Klerikalismus, Hochkirchenklimbim, Papistentum, Götzendienst - also, damit hatte er so unrecht nicht, so wie ich es sah. Er hatte auch harte Worte für uns Briten, und wir haben sie verdient, würde ich sagen.«
»Hat ihn nicht gehindert, bei uns zu essen, wie?« bemerkte Doris wiederum in die Kulissen. »Oder seinen alten Glauben zu verleugnen. Oder die Mission kurz und klein zu schlagen.« Aber der alte Mann lächelte nur geduldig. »Doris, mein Kind, ich habe es dir schon oft gesagt und ich sage es dir nochmals: Die Wege des Herrn sind unerforschlich. Solange gute Menschen bereit sind, hinzugehen und nach der Wahrheit zu suchen und nach der Gerechtigkeit und Brüderlichkeit, wird er nicht lange vor der Türe warten müssen.«