Sie unterbrach ihn: »Als unsere Partnerschaft endete, war jeder Anleger im Besitz eines beglaubigten Vertrags mit Zinsen vom Tag des Kaufs an. Jeder Penny, den wir entnahmen, wurde pünktlich beglichen.«
Bis jetzt war alles nur Anpirschen gewesen. Nun sah er sein Ziel auftauchen, und er hielt stracks darauf zu. »Nicht pünktlich, altes Haus«, berichtigte er, während sie unverwandt in den vollen Teller starrte. »Diese Abrechnungen wurden ein halbes Jahr nach dem Fälligkeitsdatum erstellt. Unpünktlich. Das ist meiner Ansicht nach ein sehr aufschlußreicher Punkt. Frage: wer hat Ric freigekauft? Soviel uns bekannt ist, war so ziemlich alle Welt hinter ihm her. Die Brennerei, die Gläubiger, das Gericht, die Gemeinde. Jeder hatte schon das Messer für ihn gewetzt. Dann, eines schönen Tages: päng! Anklagen zurückgezogen, Schatten der Kerkerstäbe weichen. Wieso? Ric war fix und fertig. Wer ist der rettende Engel? Wer hat seine Schulden aufgekauft?«
Während er redete, hatte sie den Kopf gehoben, und zu seinem Erstaunen erhellte plötzlich ein strahlendes Lächeln ihre Züge, und schon winkte sie über seine Schulter hinweg jemandem zu, den er nicht sehen konnte, bis er in den Deckenspiegel blickte und den Schimmer eines stratoblauen Anzugs sah und einen Kopf voller gutgeölter schwarzer Haare; und zwischen beidem saß ein plattes rundes Chinesengesicht auf mächtigen Schultern, und zwei verschlungene Hände streckten sich im Ringergruß aus, während Lizzie ihn heranflötete:
»Mr. Tiu! Was für ein herrlicher Zufall. Das ist Mr. Tiu. Kommen Sie rüber. Probieren Sie das Beef. Es ist großartig. Mr. Tiu, das ist Jerry von der Fleet Street. Jerry, Mr. Tiu ist ein sehr guter Freund, der ein bißchen hilft, auf mich aufzupassen. Er macht ein Interview mit mir, Mr. Tiu! Mit mir! Wahnsinnig aufregend. Alles über Vientiane und einen armen Flieger, dem ich vor hundert Jahren einmal helfen wollte. Jerry weiß alles über mich. Er ist ein Wunder!«
»Wir kennen uns bereits«, sagte Jerry und grinste breit. »Klar«, sagte Tiu genauso begeistert, und als er das sagte, roch Jerry wiederum die vertraute Duftmischung aus Mandeln und Rosenwasser, die seine einstige Frau so sehr geliebt hatte. »Klar«, wiederholte Tiu. »Sie sind der Pferdeschreiber, okay?«
»Okay«, bestätigte Jerry und strapazierte sein Lächeln fast bis zum Reißen.
Hiermit schlug natürlich Jerrys Weltbild mehrere Purzelbäume, und er hatte nun eine ganze Menge Dinge zu beachten: zum Beispiel mußte er den Eindruck erwecken, über den ausgesprochen glücklichen Zufall von Tius Auftauchen ebenso entzückt zu sein wie alle anderen; Händedrücke tauschen, die einem gegenseitigen Versprechen künftigen Einvernehmens glichen; einen Stuhl heranziehen und Drinks bestellen, Beef, Eßstäbchen und alles übrige. Aber was ihn während aller dieser Verrichtungen wirklich beschäftigte - was in seinem Gedächtnis so ausdauernd haften blieb wie die späteren Ereignisse es irgend erlaubten -, hatte wenig mit Tiu oder dessen eiligem Erscheinen zu tun. Es war Lizzies Gesichtsausdruck, als sie den eintretenden Tiu erblickte, den Bruchteil einer Sekunde, ehe das Zusammenraffen allen Muts ihr das fröhliche Lächeln entrang. Er erklärte ihm besser als irgend etwas anderes die unvereinbaren Widersprüche, aus denen Lizzie zusammengesetzt war: ihre Gefangenenträume, ihre entliehenen Persönlichkeiten, die wie Verkleidungen waren, in denen sie für kurze Zeit ihrem Schicksal entrinnen konnte. Natürlich hatte sie Tiu herbeigerufen: sie hatte keine Wahl. Er wunderte sich, wieso weder der Circus noch er selber das vorhergesehen hatten. Die Ricardo-Story, ob wahr oder nicht, war viel zu heiß, als daß das Mädchen alleine damit fertig werden konnte. Aber der Ausdruck der grauen Augen, als Tiu das Restaurant betrat, zeigte nicht Erleichterung, sondern Resignation: wiedereinmal waren die Türen hinter ihr zugefallen, war der Spaß vorbei. »Wir sind wie diese verdammten Leuchtkäfer«, hatte die Waise ihm einmal zugeflüstert, als sie sich wütend über ihre Kindheit ausließ, »schleppen das verdammte Feuer auf dem Buckel mit.« Operativ gesehen war Tius Erscheinen, wie Jerry sofort erkannte, ein Geschenk des Himmel. Wenn hier Informationen an Kos Adresse gelangen sollten, so war Tiu ein unendlich geeigneterer Kanal dafür, als Lizzie Worthington jemals zu sein erhoffen durfte.
Sie war mit Tiu-Küssen fertig und reichte ihn an Jerry weiter. »Mr. Tiu, Sie sind mein Zeuge«, erklärte sie im Verschwörerton. »Sie müssen sich jedes Wort merken, das ich sage. Jerry, machen Sie einfach weiter, ganz als wäre er gar nicht hier. Ich meine, Mr. Tiu ist verschwiegen wie das Grab, nicht wahr, darling«, sagte sie und küßte ihn abermals. »Es ist so aufregend«, wiederholte sie, und dann machten sie es sich zu einem freundschaftlichen Schwatz gemütlich.
»Also, worauf sind Sie aus, Mr. Wessby?« erkundigte Tiu sich vollendet liebenswürdig, während er in sein Rindfleisch einhieb. »Sie sind Pferdeschreiber, warum hübsche Mädchen nicht in Ruhe lassen, okay?«
»Gute Frage, altes Haus! Gute Frage. Pferde viel sicherer, okay?« Sie lachten alle drei ausgiebig, ohne einander anzusehen. Der Kellner stellte eine halbe Flasche Black Label vor ihm auf den Tisch. Tiu entkorkte sie und schnüffelte kritisch daran, ehe er eingoß.
»Er ist auf Ricardo aus, Mr. Tiu, verstehen Sie das? Er glaubt, Ricardo sei am Leben. Ist das nicht wundervoll? Ich meine, ich empfinde jetzt nicht die Spur mehr für Ric, natürlich nicht, aber es wäre doch nett, ihn wieder bei uns zu haben. Denken Sie nur an die Party, die wir geben könnten!«
»Hat Liese Ihnen das erzählt?« fragte Tiu und goß sich drei Finger hoch Whisky ein. Hat sie ihnen erzählt, es gibt Ricardo noch?«
»Wer, alter Junge, sollnmir's erzählt haben? Hab' den Namen nicht mitgekriegt.«
Tiu deutete mit einem Eßstäbchen auf Lizzie. »Hat sie Ihnen erzählt, er lebt? Dieser Pilot da? Dieser Ricardo? Hat Liese das gesagt?«
»Ich gebe meine Quellen nie preis, Mr. Tiu«, sagte Jerry ebenso liebenswürdig. »Journalistentrick. So sieht's aus, als hätte man selbst was rausgefunden«, erklärte er.
Tiu lachte aufs neue, aber Lizzie lachte noch lauter. Wieder verließ sie die Besonnenheit. Vielleicht kommt es vom Alkohol, dachte Jerry, oder vielleicht hat sie's mit stärkerem Tobak, und der Alkohol hat die Wirkung noch erhöht. Und wenn er mich noch einmal Pferdeschreiber nennt, könnte es sein, daß mir der Gaul durchgeht.
Wiederum Lizzie, Salondame in einem Gesellschaftsstück: »Mr. Tiu, Ricardo war ein Glückspilz. Bedenken Sie nur, was er alles hatte. Indocharter, mich, alle Welt. Ich war da und arbeitete für diese kleine Fluggesellschaft - reizende Chinesen, Bekannte von Daddy -, und Ricardo war, wie alle diese Flieger, als Geschäftsmann hoffnungslos. Geriet in gräßliche Schulden« - eine Handbewegung bezog Jerry in die Szene mit ein -, »mein Gott, er hat sogar versucht, mich in eines von seinen Projekten hineinzuziehen, können Sie sich das vorstellen! Whisky verkaufen, also bitte. Und plötzlich fanden meine reizenden närrischen chinesischen Freunde, daß sie noch einen Charter-Piloten brauchten. Sie beglichen seine Schulden, setzten ihm ein Gehalt aus, gaben ihm eine alte Kiste zu fliegen -«