»Wie Passagiere«, erklärte Tiu mit vollem Mund. »Sie fliegt erstklassige Schweine, okay, Mr. Wessby?«
»Welche Routen?« fragte Jerry, nachdem sie sich von ihrem Lachen erholt hatten.
»Da sehen Sie, wie er mich ausfragt, Mr. Tiu. Ich wußte gar nicht, daß ich so berühmt bin! So geheimnisvoll! Wir flogen überall hin, Jerry. Bangkok, manchmal Kambodscha, Battambang, Phnom Penh, Kampong Cham, wenn es offen war. Überall hin. An gräßliche Orte.«
»Und wer waren Ihre Kunden? Händler, Pendler? Wer waren die Stammkunden?«
»Einfach jeder, den wir kriegen konnten. Jeder, der bezahlen konnte. Am liebsten im voraus natürlich.«
Tiu legte eine kleine Eßpause ein, um ein bißchen Konversation zu machen.
»Ihr Vater ein großer Lord, okay, Mr. Wessby?«
»Mehr oder weniger«, sagte Jerry.
»Lords sind ziemlich reiche Burschen. Warum müssen Sie Pferdeschreiber sein, okay?«
Ohne auf Tius Geschwätz zu achten, spielte Jerry seine Trumpfkarte aus und machte sich darauf gefaßt, daß der Deckenspiegel auf ihren Tisch herunterkrachen würde.
»Es wird gemunkelt, Ihre Leute hätte irgendeinen Kontakt zu der dortigen russischen Botschaft gehabt«, sagte er leichthin und ausschließlich zu Lizzie. »Ist da was Wahres dran, altes Haus? Irgendwelche Roten unterm Bett, wenn man fragen darf?« Tiu beschäftigte sich angelegentlich mit seinem Reis; er hielt die Schale unters-Kinn und schaufelte ohne Unterlaß ein. Aber diesmal warf Lizzie ihm bezeichnenderweise nicht einmal einen flüchtigen Blick zu.
»Russen?« echote sie verwirrt. »Warum um alles in der Welt sollten Russen zu uns kommen? Sie hatten ihre regelmäßigen Aeroflot-Flüge von und nach Vientiane einmal pro Woche.« Er hätte geschworen, damals und später, daß sie die Wahrheit sprach. Aber er gab sich trotzdem nicht ganz zufrieden: »Auch keine lokalen Flüge?« bohrte er weiter. »Botenflüge, Kurierdienste oder irgend sonst etwas?«
»Niemals. Wie hätten wir das gekonnt? Außerdem, die Chinesen hassen doch die Russen, nicht wahr, Mr. Tiu?«
»Russen ziemlich schlechte Leute, Mr. Wessby«, pflichtete Tiu bei. »Sie riechen ziemlich schlecht.«
Du aucK dachte Jerry, dem aufs neue der Mandeln- und Rosen-Duft der Ersten Gattin in die Nase stieg. Jerry lachte über seine eigene Albernheit: »Ich habe Redakteure, wie andere Leute Magenweh haben«, entschuldigte er sich. »Der meine ist überzeugt, daß wir ein paar Rote unterm Bett hervorholen könnten. »Ricardos sowjetische Zahlmeister«. Hat Ricardo mal Zwischenlandung im Kreml gemacht?«
»Zahlmeister?« wiederholte Lizzie höchlichst verblüfft. »Ric erhielt nie auch nur einen Penny von den Russen. Wovon reden ihre Leute eigentlich?«
Wiederum Jerry: »Indocharter aber schon, nicht wahr? - Es sei denn, meine Herren und Meister wären einer Ente aufgesessen, so wird's sein, wie üblich. Indocharter habe Geld von der dortigen Botschaft erhalten und es in Form von US-Dollar hinunter nach Hongkong gepumpt: das behaupten sie in Loidoi , und davon wollen sie nicht abgehen.«
»Die sind verrückt«, sagte das Mädchen überzeugt. »Ich habe nie solchen Unsinn gehört.«
Jerry erschien sie sogar erleichtert darüber, daß die Unterhaltung eine so unwahrscheinliche Wendung genommen hatte. Ricardo noch am Leben - da bewegte sie sich auf einem Minenfeld. Ko ihr Liebhaber - es lag bei Ko oder bei Tiu, ob er dieses Geheimnis preisgeben wollte, nicht bei ihr. Aber russisches Geld? Jerry war so überzeugt, wie er es irgend sein konnte, daß sie nichts davon wußte und nichts davon befürchtete.
Er schlug vor, mit ihr nach Star Heights zurückzufahren. Aber sie sagte, Tiu müsse sowieso in diese Richtung.
»Auf recht baldiges Wiedersehen, Mr. Wessby«, versprach Tiu.
»Freu mich schon, altes Haus«, sagte Jerry.
»Sie wollen Pferdeschreiber bleiben, ja? Ich meine, so verdienen Sie mehr Geld, Mr. Wessby, okay?« In seiner Stimme lag keine Drohung, auch nicht in der freundschaftlichen Art, in derer Jerry einen Klaps auf den Oberarm versetzte. Tiu sprach nicht einmal so, als erwarte er, daß sein Wort hier mehr Gewicht haben würde als ein Wort unter Freunden.
Plötzlich war es vorbei. Sie küßte den Oberkellner, aber nicht Jerry. Sie schickte Jerry, nicht Tiu nach ihrem Mantel, so daß sie nicht mit ihm allein war. Sie sah ihn kaum an, als sie sich verabschiedeten.
Geschäfte mit schönen Frauen, Ehrwürden, hatte Craw gewarnt, sind ähnlich wie Geschäfte mit bekannten Kriminellen, und die Dame, an die Sie sich jetzt heranmachen werden, fällt zweifellos in diese Kategorie. Als Jerry durch die mondhellen Straßen nach Hause wanderte - trotz des langen Wegs, der Bettler, der Augen in den Türnischen -, nahm er Craws Ausspruch genauer unter die Lupe. Über kriminell konnte er sich beim besten Willen nicht entscheiden; kriminell schien eine ziemlich variable Größe zu sein, selbst in den besten Zeiten, und weder der Circus noch seine Agenten waren berufen, ein Kirchspielkonzept von Gesetz und Ordnung zu pflegen. Craw hatte ihm erzählt, daß Ricardo sie in flauen Zeiten mit kleinen Päckchen über die Grenze geschickt habe. Große Sache. Überlaß sie den Eulen. Bekannte Kriminelle jedoch war etwas ganz anderes. Mit bekannt würde er unbedingt einverstanden sein. Als er an den gejagten Blick dachte, mit dem Elizabeth Worthington Tiu angestarrt hatte, kam er zu dem Schluß, er müsse dieses Gesicht, diesen Blick und diese Hilflosigkeit in der einen oder anderen Verkleidung schon die meiste Zeit seines bewußten Lebens gekannt haben.
Gewisse unbedeutende Kritiker George Smileys raunen gelegentlich, er hätte an diesem Wendepunkt irgendwie sehen müssen, woher bei Jerry der Wind blies und ihn unverzüglich zurückbeordern. Schließlich war Smiley im Endeffekt Jerrys Einsatzleiter. Er allein führte Jerrys Akte, betreute und instruierte ihn. Wäre er damals noch in Hochform gewesen, sagen sie, und nicht schon auf dem absteigenden Ast, so hätte er die Warnsignale zwischen den Zeilen von Craws Berichten lesen können und Jerry beizeiten abgezogen. Genausogut hätten sie beanstanden können, er sei bloß ein zweitklassiger Wahrsager. Die Fakten, so wie sie an Smiley gelangten, waren folgende:
Am Morgen nach Jerrys Nummer mit Lizzie Worthington - der Ausdruck hat keinen sexuellen Nebensinn - ließ Craw sich von Jerry über drei Stunden lang bei einem Autotreff berichten, und Craws Meldung beschreibt Jerrys Verfassung als, wie durchaus verständlich, »antiklimaktischen Katzenjammer«. Er fürchte anscheinend, sagte Craw, daß Tiu oder sogar Ko dem Mädchen die Schuld an ihrer »Mitwisserschaft« geben und sogar Hand an sie legen könnten. Jerry habe mehr als einmal Tius offenkundige Verachtung für das Mädchen - und für ihn selber und vermutlich für alle Europäer - erwähnt und Tius Bemerkung wiederholt, wonach er ihretwegen von Kaulun nach Hongkong reisen würde, aber nicht weiter. Craw habe Jerry entgegengehalten, daß Tiu sie jederzeit hätte zum Schweigen bringen können und daß ihr Wissen sich, laut Jerrys eigener Aussage, nicht einmal bis zu der russischen Goldader erstrecke, ganz zu schweigen von Bruder Nelson.