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Der Strom der Ereignisse, auf dem Smiley dahingetrieben wurde, war viel zu mächtig, um dergleichen ausgefallene Abstraktionen zuzulassen. Nicht nur versetzte der achte Tag, als er herangekommen war, den Circus tatsächlich in den Kriegszustand: es ist auch die verzeihliche Eitelkeit der Einsamen in aller Welt, zu glauben, sie hätten keine Leidensgenossen.

Der achte Tag

Die heitere Stimmung auf der fünften Etage war eine große Erleichterung nach der Niedergeschlagenheit des letzten Meetings. Honigmond der Wühlmäuse, nannte es Guillam, und heute abend war der Höhepunkt, ein kleinerer Sternenschauer der Erfüllung, und er erfolgte, nach der Chronologie, die den Dingen später von den Historikern angekleistert wurde, genau acht Tage nachdem Jerry und Lizzie und Tiu ihren umfassenden und offenen Meinungsaustausch über die Themen Tiny Ricardo und russische Goldader gehabt hatten - zum großen Entzücken der Planer im Circus. Guillam hatte Molly listig eingeschleust. Sie hatten in allen Richtungen gegraben, diese schattenhaften Nachtgeschöpfe, waren alten und neuen Wegen und längst überwachsenen Pfaden gefolgt, die es neu zu entdecken galt; und jetzt drängten sie sich alle zwölf endlich, hinter ihren beiden Anführern Connie Sachs alias Mütterchen Rußland und dem unergründlichen di Salis, alias Doc, im Thronsaal zusammen, unter Karlas Porträt, wo sie einen untertänigen Halbkreis um ihren Chef bildeten, Bolschis und Gelbe Gefahren brüderlich vereint. Also eine Plenarsitzung; und für jeden, dem ein solches dramatisches Ereignis neu war, wirklich ein Markstein der Geschichte. Und Molly saß gesittet an Guillams Seite, das Haar lang herabhängend, um die Bißmale an ihrem Hals zu verbergen.

di Salis redet am meisten. Die anderen Ränge finden das in Ordnung. Schließlich ist Nelson Ko ausschließlich die Domäne des Doc: Chinesisch bis zu den Ärmelbündchen seines Gewands. Der Doc beherrscht sich übermenschlich - Ellbogen, Knie, Füße, fuchtelnde Finger, alles hält ausnahmsweise beinahe still, und er bringt seine Sache so unterkühlt und beinahe mißbilligend vor, daß die unerbittliche Klimax entsprechend aufregender ist. Und diese Klimax hat sogar einen Namen. Er lautet Schenghsiu alias Ko, Nelson, später auch bekannt als Yao Kaischeng, unter welchem Namen er dann während der Kulturrevolution in Ungnade fiel.

»Aber innerhalb dieser Mauern, Gentlemen«, piepst der Doc, für den das weibliche Geschlecht inexistent ist, »werden wir ihn weiterhin Nelson nennen.«

Geboren 1928 in Swatow in ärmlichen proletarischen Verhältnissen - um die offiziellen Quellen zu zitieren, sagt der Doc - und bald darauf nach Schanghai übersiedelt. Keine Erwähnung, weder in offiziellen noch in inoffiziellen Verlautbarungen, von Mr. Hibberts Missionsschule >Lord's Life<, nur ein betrübter Hinweis auf »Ausbeutung durch westliche Imperialisten in der Kindheit«, die ihn mit Religion vergifteten. Als die Japaner nach Schanghai kamen, schloß Nelson sich dem Flüchtlingstreck nach Tschung-king an, genau wie Mr. Hibbert berichtet hatte. Von Jugend an widmete Nelson sich, dies wiederum laut offizieller Unterlagen, fährt der Doc fort, insgeheim fruchtbaren revolutionären Studien und beteiligte sich an verbotenen kommunistischen Gruppen, ungeachtet der Unterdrückung durch den hassenswerten Tschiang-Kaischeck-Pöbel. Auf der Flucht versuchte er auch »bei mehreren Gelegenheiten, sich zu Mao abzusetzen, aber es mißlang wegen seiner großen Jugend. Nach seiner Rückkehr nach Schanghai wurde er bereits als Student ein führendes Mitglied der illegalen kommunistischen Bewegung und übernahm Sondereinsätze in den Werften von Kiangnan und Umgebung, um den verderblichen Einfluß von faschistischen Kuomintang-Elementen zu unterhöhlen. An der University of Communications erließ er einen öffentlichen Aufruf zur Schaffung einer gemeinsamen Front von Studenten und Bauern. Abschlußexamen mit Auszeichnung im Jahr 1951 . . . «

Hier unterbricht sich di Salis, wirft in jähem Nachlassen der Spannung einen Arm hoch und packt den Haarschopf in seinem Nacken.

»Das übliche schwülstige Porträt des erleuchteten Studentenhelden, Chef, der seiner Zeit voraus ist«, singt er. »Was ist mit Leningrad?« fragt Smiley, der am Schreibtisch sitzt und sich Notizen macht.

»Neunzehnhundertdreiundfünfzig bis sechsundfünfzig.«

»Ja, Connie?«

Connie sitzt wieder in ihrem Rollstuhl. Die Schuld daran gibt sie dem Eismonat und dieser Kröte Karla.

»Wir haben einen Bruder Bretlew, darling. Bretlew, Iwan Iwanowitsch, Professor, Leningrad, Fakultät Schiffsbau, alter China-Mann, leistete in Schanghai Handlangerdienste für die Chinaagenten der Zentrale. Revolutions-Haudegen, in jüngerer Zeit als Talentsucher aus Karlas Schule tätig, fischt unter den Übersee-Studenten nach brauchbaren Burschen und Mädels.« Für die Wühlmäuse auf der chinesischen Seite - die Gelben Gefahren - ist diese Information neu und aufregend und bewirkt heftiges Stühleknarzen und Papiergeraschel, bis di Salis auf Smileys Nicken hin seinen Kopf losläßt und seinen Bericht wieder aufnimmt.

»Kehrte siebenundfünfzig nach Schanghai zurück und würde mit der Leitung einer Eisenbahn-Reparaturwerkstätte betraut -.« Wiederum Smiley: »Aber in Leningrad war er von dreiundfünfzig bis sechsundfünfzig?«

»Richtig«, sagt di Salis. »Dann scheint ein Jahr zu fehlen.« Jetzt raschelten keine Papiere und kein Stuhl knarrte. »Die offizielle Erklärung lautet Rundreise zu sowjetischen Werften«, sagt di Salis, feixt Connie an und verdreht geheimnisvoll und wissend den Hals.

»Vielen Dank«, sagt Smiley und macht sich wieder eine Notiz. »Siebenundfünfzig«, wiederholt er. »War das vor dem chinesischsowjetischen Zerwürfnis oder danach, Doc?«

»Vor. Das Zerwürfnis nahm neunundfünfzig ernsthafte Formen an.«

Hier fragt Smiley, ob Nelsons Bruder irgendwo erwähnt werde: oder sei Drake in Nelsons China genauso in Ungnade wie Nelson in Drakes China?

»In einer der frühesten Biographien wird Drake erwähnt, allerdings nicht namentlich. In den späteren heißt es, ein Bruder sei während der kommunistischen Machtergreifung im Jahr neunundvierzig gestorben.«

Smiley macht einen seiner seltenen Witze, der mit gedankenlosem erleichtertem Gelächter quittiert wird: »In diesem Fall wimmelt es von Leuten, die behaupten, tot zu sein«, klagt er. »Ich werde geradezu aufatmen, wenn ich irgendwo eine echte Leiche finde.« Nur wenige Stunden später entsann man sich dieses bort mot mit Schaudern.

»Wir haben ferner einen Vermerk, wonach Nelson in Leningrad ein Musterstudent war«, fährt di Salis fort. »Zumindest in russischen Augen. Sie schickten ihn mit höchsten Empfehlungen nach Hause.«

Connie erlaubt sich aus ihrem Stahlsessel heraus einen weiteren Einwurf. Sie hat Trot, ihren räudigen braunen Bastardköter, mitgebracht. Er liegt verdreht auf ihrem geräumigen Schoß, stinkt und läßt dann und wann einen Seufzer fahren, aber nicht einmal Guillam, der Hunde haßt, hat den Nerv, ihn hinauszuwerfen. »Oh, natürlich haben sie das getan, wie?« ruft sie. »Die Russen haben Nelsons Talente in den Himmel gelobt, versteht sich, besonders wenn Bruder Bretlew Iwan Iwanowitsch ihn an der Universität geschnappt und Karlas Herzenskinder ihn ins Trainingslager und so weiter gezaubert haben! Begabter kleiner Maulwurf wie Nelson, geben ihm einen anständigen Start im Leben, für seine Rückkehr nach China! Ist ihm später nicht besonders gut bekommen, wie, Doc? Nicht, als die Große Barbarische Kulturrevolution ihn am Kragen erwischt hat! Die maßlose Bewunderung der feigen sowjetisch-imperialistischen Hunde trug man damals besser nicht stolz zur Schau, wie?« Über Nelsons Sturz sind nur wenige Einzelheiten zur Hand, verkündet der Doc, der nun auf Connies Ausbruch hin lauter spricht. »Es muß angenommen werden, daß es sich um einen heftigen Sturz handelte, und wie Connie bereits bemerkte: wer am höchsten in der Gunst der Russen stand, tat den schmerzlichsten Fall.« Er blickt auf das Blatt Papier, das er schief vor das fleckige Gesicht hält. »Ich lese Ihnen nicht seine sämtlichen Posten zur Zeit seines Sturzes vor, Chef, weil er sie ohnehin verlor. Aber es besteht kein Zweifel, daß er tatsächlich die technische Leitung des größten Teils der Schiffsbau-Werften in Kiangnan hatte, also maßgeblich für Chinas Flottenpotential verantwortlich war.«