»Danach kann man sich vorstellen, was sie für Moskau ist«, murmelt eine alte Wühlmaus ungefragt. »Die Chinesen entwickeln zur Zeit vermutlich ihre eigene Ausführung des russischen U-Boots der G-2-Klasse«, erklärt di Salis. »Niemand weiß besonders viel darüber. Haben sie ihr eigenes Modell? Mit zwei oder vier Abschußrohren? Sind sie mit See-Luft- oder mit See-See-Raketen bestückt? Welcher Etat ist für sie angesetzt? Es gibt Gerüchte über eine Han-Klasse. Wir erfuhren, daß sie einundsiebzig ein solches Modell auf Stapel legten. Bestätigung erhielten wir nie. Vierundsechzig bauten sie angeblich in Dairen ein Boot der G-Klasse, mit ballistischen Raketen ausgestattet, aber offiziell hat es noch niemand bestätigt. Und so weiter und so fort«, sagt di Salis mißbilligend, denn wie die meisten Circusleute hegt er eine tief verwurzelte Abneigung gegen militärische Angelegenheiten und würde die mehr künstlerischen Ziele vorziehen. »Für harte und rasche, detaillierte Informationen über diese Gegenstände würden die Vettern ein Vermögen zahlen. Langley könnte über Jahre hinweg Hunderte von Millionen für Nachforschung, Überflüge, Satelliten, Abhorchvorrichtungen und Gott weiß was noch ausgeben - und dennoch kein halb so gutes Resultat erzielen wie ein einziges Foto. Wenn also Nelson - « Er läßt den Satz in der Luft hängen, was weit wirkungsvoller ist, als wenn er ihn beendet hätte. Connie flüstert »Gut gemacht, Doc«, aber noch eine ganze Weile spricht sonst niemand; sie sind alle gebannt durch Smileys Kritzeln und sein fortgesetztes Studium der Akte.
»So gut wie Haydon«, murmelt Guillam. »Besser. China ist die letzte Grenze. Härteste Nuß in der Branche.«
Smiley lehnt sich zurück, offenbar hat er seine Berechnungen abgeschlossen.
»Ricardo flog ein paar Monate nach Nelsons formeller Rehabilitierung hinüber«, sagt er.
Niemand sieht sich veranlaßt, dies zu bezweifeln.
»Tiu reist nach Schanghai, und sechs Wochen später wird Ricardo - «
Weit im Hintergrund hört Guillam das Telefon der Vettern schnarren, das in sein Büro durchgestellt wurde, und er behauptet später hartnäckig, in diesem Augenblick sei Sam Collins' mißfälliges Bild aus seinem Unterbewußtsein aufgestiegen wie ein Geist aus der Flasche, und wieder einmal habe er sich gefragt, wie er jemals so unbedacht habe sein können, Sam Collins diesen eminent wichtigen Brief an Martello abliefern zu lassen. »Nelson hat noch ein weiteres Eisen im Feuer, Chef«, fährt di Salis genau in dem Moment fort, als alle glauben, er sei am Ende: »Ich zögere, es als bare Münze weiterzugeben, aber andererseits wage ich unter den gegebenen Umständen auch nicht, es völlig auszulassen. Ein eingetauschter Bericht von den Westdeutschen, datiert vor ein paar Wochen. Nach ihren Quellen ist Nelson seit jüngster Zeit Mitglied einer Gruppe, die wir mangels Information als The Peking Tea Club bezeichnen, eine Keimzelle, die nach unserer Meinung zur Koordination der chinesischen Geheimdienstambitionen geschaffen wurde. Nelson wurde zunächst als Berater in Fragen elektronischer Überwachung zugezogen und dann als Vollmitglied gewählt. Das Ganze funktioniert, soviel wir ergründen können, etwa so wie unser Lenkungsausschuß. Aber ich muß betonen, daß es sich hier um einen Schuß ins dunkle handelt. Wir wissen nicht das Geringste über die chinesischen Geheimdienste, und die Vettern auch nicht.« Smiley ist ausnahmsweise um Worte verlegen, er starrt di Salis an, macht den Mund auf und wieder zu, dann nimmt er die Brille ab und putzt sie.
»Und Nelsons Motiv?« fragt er und nimmt noch immer nicht Kenntnis vom unablässigen Schnarren des Vetterntelefons. »Nur ein Schuß ins dunkle, Doc. Wie würden Sie das sehen?« di Salis zuckt so heftig die Achseln, daß seine fettige Mähne wie ein Bohnermop fliegt. »Ach, die Mutmaßung, die jeder anstellen würde«, sagt er gereizt. »Wer glaubt heutzutage noch an Motive? Es wäre völlig natürlich gewesen, wenn er auf die Anwerbungsversuche in Leningrad angesprochen hätte, selbstverständlich nur, wenn sie in der richtigen Weise erfolgten. Nichts, was er als Verrat empfinden müßte. Und nichts Doktrinäres. Rußland war Chinas großer älterer Bruder. Sie brauchten Nelson nur zu sagen, er sei als einer der Wächter über die wahren Werte ausersehen. Das betrachte ich nicht als besonderes Kunststück.« Draußen bimmelte das grüne Telefon immer weiter. Bemerkenswert, Martello ist sonst nicht so ausdauernd. Nur Guillam und Smiley dürfen das Gespräch annehmen. Aber Smiley hat nichts gehört, und Guillam will verdammt sein, wenn er sich vom Fleck rührt, während di Salis über die Gründe extemporiert, die Nelson bewogen haben könnten, Karlas Maulwurf zu werden. »Als die Kulturrevolution ausbrach, glaubten viele Leute in Nelsons Rang, Mao sei verrückt geworden«, erläutert di Salis, noch immer nur zögernd Theorien von sich gebend. »Sogar ein paar seiner eigenen Generale dachten so. Die Demütigungen, die Nelson erlitten hatte, machten ihn nach außen hin konform, aber innerlich blieb vielleicht Bitterkeit zurück - wer weiß -, vielleicht sogar Rachegelüst.«
»Die Alimentenzahlungen an Drake begannen zu einer Zeit, als Nelsons Rehabilitierung kaum beendet war«, wirft Smiley milde ein. »Wie lauten hierüber die Vermutungen, Doc?«
Dies alles ist einfach zu viel für Connie, und wiederum fließt sie über.
»O George, wie können Sie so naiv sein. Sie können sich das doch denken, Lieber, natürlich können Sie's! Diese armen Chinesen können es sich nicht leisten, einen Spitzentechnologen sein halbes Leben lang auf Eis zu legen und ihn nicht zu nutzen! Karla sah, wohin die Entwicklung ging, wie, Doc? Er sah, wohin der Wind sich drehte und ging mit. Er hielt seinen armen kleinen Nelson an der Strippe, und sobald er aus der Wildnis zurückkam, schickte er ihm seine Boten: >Wir sind's, weißt du noch? Deine Freunde! Wir lassen dich nicht fallen! Wir spucken dich nicht auf der Straße an! Und jetzt wieder an unsere Arbeit !< Das würden Sie ganz genau so anstellen, und Sie wissen es!«
»Und das Geld?« fragt Smiley. »Die halbe Million?«
»Zuckerbrot und Peitsche! Drohende Erpressung oder enorme Belohnungen. Nelson ist von beiden Seiten festgenagelt.« Aber trotz Connies Ausbruch hat di Salis das letzte Wort: »Er ist Chinese. Er ist Pragmatiker. Er ist Drakes Bruder. Er kann aus China nicht heraus - «
»Noch nicht«, sagt Smiley mit sanfter Stimme und blickt wieder in die Akte.
» - und er kennt seinen Marktwert für den russischen Geheimdienst sehr genau. »Du kannst Politik nicht essen, du kannst nicht mit ihr ins Bett gehen< wie Drake immer sagte, also kannst du wenigstens Geld mit ihr verdienen - «
»Für den Tag, an dem du China verlassen und es ausgeben kannst«, ergänzt Smiley, schließt - als Guillam auf Zehenspitzen aus dem Büro geht -, die Akten, und nimmt sein Notizpapier wieder vor. »Drake versuchte schon einmal, ihn herauszuholen, es mißlang, also nahm Nelson das russische Geld an, bis . . . bis? Vielleicht bis Drake einmal mehr Glück hat.« Das beharrliche Rasseln des Telefons im Hintergrund hat endlich aufgehört.
»Nelson ist Karlas Maulwurf«, bemerkt Smiley schließlich, wiederum mehr zu sich selber. »Er sitzt auf einem unbezahlbaren Topf voll chinesischen Geheimmaterials. Das allein würde uns schon reichen. Er handelt auf Karlas Befehle. Die Befehle selbst sind für uns von unschätzbarem Wert. Sie würden uns genau zeigen, wieviel die Russen über ihren chinesischen Feind wissen und sogar, was sie gegen ihn planen. Wir könnten nach Herzenslust rückpeilen. Ja, Peter?«