Eine tragische Meldung schlägt immer wie ein Blitz aus heiterem Himmel ein. Eben noch stand ein Ideengebäude; im nächsten Moment ist es eingestürzt, und für die Betroffenen hat die Welt sich unwiderruflich verändert. Guillam hatte dennoch, als Polster sozusagen, ein Amtsformular des Circus und das geschriebene Wort verwendet. Er hatte seine Botschaft für Smiley auf ein Telegrammformular geschrieben in der Hoffnung, dessen Anblick werde ihn schonend vorbereiten. Er ging ruhig zum Schreibtisch, das Formular in der Hand, legte es auf die Glasplatte und wartete. »Übrigens, Charlie Marshall, der andere Pilot«, wendete sich Smiley, der Unterbrechung nicht achtend, an die Versammlung. »Haben die Vettern ihn schon aufgestöbert, Molly?«
»Seine Geschichte ist ähnlich der Ricardos«, erwiderte Molly Meakin und blickte Guillam fragend an. Er stand noch immer neben Smiley und sah plötzlich grau und ältlich und krank aus. »Wie Ricardo flog auch er im Laos-Krieg für die Vettern, Mr. Smiley. Die beiden waren Kursgenossen an Langleys geheimer Fliegerschule in Oklahoma. Als Laos vorbei war, ließen sie ihn fallen und wissen seither nichts mehr von ihm. Bei Rauschgift heißt es, er habe Opium transportiert, aber das heißt es von allen Piloten der Vettern.«
»Ich glaube, Sie sollten das lesen«, sagte Guillam und wies entschlossen auf die Meldung.
»Marshall muß Westerbys nächster Schritt sein. Wir müssen den Druck aufrechterhalten«, sagte Smiley.
Endlich nahm Smiley das Telegrammformular zur Hand und hielt es prüfend nach links, wo das Licht am hellsten' war. Er las mit hochgezogenen Brauen und gesenkten Lidern. Wie immer las er zweimal. Sein Ausdruck veränderte sich nicht, aber die Nächstsitzenden sagten, aus seinem Gesicht sei alle Bewegung gewichen.
»Vielen Dank, Peter«, sagte er ruhig und legte das Blatt nieder. »Und vielen Dank Ihnen allen. Connie und Doc, würden Sie vielleicht noch hierbleiben? Allen übrigen wünsche ich eine lange und gute Nacht.«
Das junge Volk quittierte diesen frommen Wunsch mit fröhlichem Gelächter, denn es war bereits weit über Mitternacht.
Das Mädchen von droben schlief wie eine nette braune Puppe an eines von Jerrys langen Beinen geschmiegt, drall und tadellos im orangefarbenen Nachtlicht des regentriefenden Hongkong-Himmels. Sie schnarchte wie ein Sägewerk, und Jerry starrte durchs Fenster und dachte an Lizzie Worthington. Er dachte an die beiden Krallenspuren an ihrem Kinn und fragte sich aufs neue, wer sie ihr beigebracht haben mochte. Er dachte an Tiu, den er sich als ihren Kerkermeister vorstellte, und er sagte das Wort »Pferdeschreiber« vor sich hin, bis es ihn richtig wütend machte. Er fragte sich, wieviel Warten ihm noch bevorstehe und ob er danach bei ihr eine Chance habe, was alles war, was er verlangte: eine Chance. Das Mädchen bewegte sich, aber nur, um sich zu kratzen. Von nebenan hörte Jerry ein rituelles Klicken, als die übliche Mahjong-Runde die Steine wusch, ehe sie verteilt wurden. Das Mädchen war zunächst nicht übermäßig begeistert auf Jerrys Annäherungsversuche eingegangen - ein Schwall leidenschaftlicher Billetts, die zu allen Stunden der vorhergegangenen Tage in ihren Briefkasten fielen -, aber sie mußte unbedingt ihre Gasrechnung bezahlen. Offiziell war sie Eigentum eines Geschäftsmannes, aber in letzter Zeit waren seine Besuche seltener geworden und in allerletzter hatten sie völlig aufgehört, mit dem Ergebnis, daß sie sich weder die Wahrsagerin leisten konnte noch Mahjong, noch die eleganten Kleider, für die sie sich entschieden hatte, sobald ihr der Durchbruch in die Kung-Fu-Filme gelingen würde. Also erhörte sie ihn, aber auf streng finanzieller Basis. Sie fürchtete vor allem, ihr Verkehr mit dem häßlichen kweilo könne bekanntwerden, und deshalb hatte sie ihre komplette Ausgehuniform angelegt, ehe sie das eine Stockwerk herunterkam; einen braunen Regenmantel mit amerikanischen Messingspangen an den Schulterstücken, gelbe Plastikstiefel und einen Plastikschirm mit roten Rosen. Jetzt lag diese ganze Ausrüstung auf dem Parkettboden herum wie Kriegsgerät nach einer Schlacht und sie schlief auch in der gleichen heldischen Erschöpfung, so daß ihre einzige Reaktion auf das Klingeln des Telefons in einem schläfrigen kantonesischen Fluch bestand.
Als Jerry den Hörer abnahm, tat er es in der idiotischen Hoffnung, es könne Lizzie sein, aber es war nicht Lizzie. »Bewegen Sie Ihren Hintern schleunigst hierher, und Stubbsi wird Sie lieben«, versprach Luke. »Beeilung. Ich tue Ihnen den größten Gefallen unserer Karriere.«
»Wo ist hierher, wenn ich fragen darf?« fragte Jerry. »Vor Ihrem Haus, Sie Affe.«
Er rollte das Mädchen von sich weg, aber sie wachte noch immer nicht auf.
Die Straßen glänzten vom unerwarteten Regen, und der Mond hatte einen dicken Hof. Luke fuhr, als säßen sie in einem Jeep, im höchsten Gang. An den Straßenecken dröhnte die Kupplung wie Hammerschläge. Whiskydünste füllten den Wagen. »Was haben Sie denn, um Himmels willen?« fragte Jerry. »Was ist los?«
»Großartiges Stück Fleisch. Schnauze.«
»Ich will kein Fleisch. Ich bin bedient.«
»Das werden Sie schon mögen, Mann, und ob Sie das mögen werden.«
Sie hielten auf den Hafentunnel zu. Ein Schwarm Radfahrer ohne Licht kurvte aus einer Querstraße heran, und Luke mußte auf den Mittelstreifen, um ihnen auszuweichen. »Halten Sie Ausschau nach einem verdammt großen Bau«, sagte Luke. Ein Streifenwagen mit blinkenden Lichtern überholte sie. Luke, der glaubte, daß er angehalten werden sollte, kurbelte sein Fenster herunter. »Wir sind Presse, ihr Idioten«, brüllte er. »Wir sind Stars, hört ihr?«
Im Inneren des vorbeirasenden Streifenwagens konnten sie einen chinesischen Sergeanten und dessen Fahrer ausmachen, im Fond thronte ein würdig aussehender Europäer, vielleicht ein Richter. Vor ihnen, rechter Hand vom Fahrdamm, kam der angekündigte Bau in Sicht; ein Käfig aus gelben Tragbalken und Bambusgerüsten, wimmelnd von schwitzenden Kulis. Kräne, die im Regen funkelten, hingen wie Peitschen über ihnen. Das Flutlicht kam vom Boden und wurde hoffnungslos vom Nebel verschluckt. »Halten Sie nach einem niedrigen Gebäude Ausschau, muß ganz nah sein«, befahl Luke und verlangsamte auf sechzig. »Weiß. Schauen Sie nach einem weißen Gebäude aus.« Jerry wies darauf hin, ein zweistöckiger Komplex aus feuchtem Stuck, weder neu noch alt, neben dem Eingang ein zwanzig Fuß hohes Bambusgestell und ein Krankenwagen. Der Krankenwagen stand offen, und die drei Fahrer lungerten rauchend darin und beobachteten die Polizisten, die im Vorhof herumschwärmten, als gälte es, einen Aufstand unter Kontrolle zu bringen.
»Er gibt uns eine Stunde Vorsprung vor dem Feld.«
»Wer?«
»Rocker. Der Rocker gibt ihn uns. Wer dachten Sie?«
»Warum?«
»Wahrscheinlich, weil er mich verprügelt hat. Er liebt mich. Er liebt Sie auch. Er hat eigens gesagt, ich soll Sie mitbringen.«
»Warum?«
Der Regen fiel unaufhörlich.
»Warum? Warum? Warum?« echote Luke wütend. »Los jetzt, schnell!«