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Autor trotz seiner Ansprüche sinken konnte, wenn der Augenblick oder ein Auftraggeber kurzfristig etwas von ihm verlangte.

Kann, wenn die Erfahrungen nicht im richtigen Tempo nachwachsen, die Phantasie aushelfen? Der Schluß von Eine Bluttat, ein Betrug und ein Bund fürs Leben, wo er Jules Vernes phantastische Romane lächerlich macht, ist auch ein wütender, fast grobschlächtiger Angriff auf ein Phantasieren, das nicht durch Erfahrung gedeckt ist. Dabei durchbricht Twain den rigiden, an einer angeblich objektiven Wirklichkeit orientierten Realismus, den er gerne gegen andere Autoren verficht, in seinen besten Erzählungen regelmäßig selbst. Was wäre der Plot unserer Geschichte ohne seine haarsträubend unwahrscheinlichen Wendungen, wie sehr zehrt die Erzählung von ihrer phantastischen Vorgeschichte, vom Flug, vom Absturz und von der Auffindung des verunglückten Ballonfahrers. Es rettet den bekennenden Realisten Twain nicht, daß er diesen Einfall, auf dem Umweg der satirischen Anspielung, zuletzt dem europäischen Kollegen in die Schuhe zu schieben versucht.

Glückliches Europa, das noch derart als Spiegel und Konkurrent dienen konnte! Kaum vorstellbar, daß ein gegenwärtiger amerikanischer Großschriftsteller sich einen zeitgenössischen europäischen Kollegen in dieser Weise zum Bild seiner Nöte und geheimen Wünsche machen könnte. Heute muß es uns rühren, wie Twain in halb mörderischer, halb selbstmörderischer Absicht seinem transatlantischen Alter ego an die Gurgel geht. Dieses Europa gibt es im Selbstverständnis der heutigen USA nicht mehr. Es muß irgendwann aus dem Ballon des amerikanischen Höhenflugs gefallen sein.

X

Im Jahr 1900, noch zu Lebzeiten Twains, erscheint ein amerikanischer Prosatext, in dem wie bei Twain und Verne phantastische Ballonfahrten eine wichtige Rolle spielen. Ein amerikanischer Luftschiffer gerät durch einen langen Irrflug in ein märchenhaftes Land, das ganz von der modernen Welt abgeschnitten ist und von zwergenhaften, liebenswert schrulligen Menschen bewohnt wird. Der Amerikaner versteht es, sich mit Lug und Trug zu ihrem Herrscher aufzuschwingen. Als angeblicher Zauberer herrscht er, der in Wahrheit nur ein geschickter Bauchredner ist, über ein Reich, das in vielem einem seltsam verklärten und auf Puppenweltgröße geschrumpften Alteuropa gleicht. In The Wonderful Wizard of Oz von Lyman Frank Baum ist Europa ganz Bestandteil der amerikanischen Phantasie geworden. Man erreicht es unversehens wie im Traum und verläßt es ebenso unwillkürlich. Am Ende der Geschichte wird der betrügerische Bauchredner von Dorothy, einem kleinen Mädchen aus Kansas, gezwungen, in die einzige Wirklichkeit, die es gibt, in die USA heimzukehren. Auch Dorothy macht sich ganz zuletzt auf den Heimweg, in ein Kansas, das öd, grau und verbrannt ist, das das Missouri von Twain noch an Trostlosigkeit übertrifft. «Wo in aller Welt bist du gewesen?» wird sie gefragt. Und Dorothys knappe Antwort «Im Lande Oz» ist hilflos und selbstbewußt zugleich, als wäre sich das Mädchen auf eine altkluge Art sicher, daß sich sonst nichts über das Verhältnis dieses Reiches zu ihrer Heimat sagen ließe.

Bei Twain aber ist das Europäische noch nicht restlos in jenem großen Selbstgespräch aufgegangen, das die amerikanische Kultur seither mit sich führt. Zwar ahnt er die alles umschließende Roheit der amerikanischen Gegenwart.

Aber in A Murder, a Mystery, and a Marriage lehnt er sich noch einmal dagegen auf. Und so fragt der Schlußsatz der Erzählung in einer allerletzten rhetorischen Wendung, wo Jules Verne nach seinem Sturz wohl gelandet sei. Es ist eine seltsam unsinnige Frage, denn der Erzähler, der betrügerische Franzose, war sich zuvor ganz sicher, daß Verne, bald nach dem Start des Ballons, zu Tode gestürzt ist, und daß er ihn im Niemandsland der Hölle wiedersehen wird.

Die Antwort, die wir dem zu Tode Verurteilten geben könnten, lautet: Irgendwo in Europa! Und es ist wahrlich nobel von Twain, daß er uns, seinen verspäteten europäischen Lesern, Raum für diese Antwort läßt. Fast möchte ich ihn, den rücksichtslosen Verspotter nicht nur französischer, sondern auch deutscher Verhältnisse, dafür, über ein Jahrhundert hinweg, zum Ehreneuropäer ernennen.

Ja, wenn wir Twain lesen, spüren wir, wo wir noch anders als die USA und damit wirklich sind, und wir ahnen, wie sein Amerika auf eine schaurig mörderische Weise zum globalen Niemandsland, zum «Gar-kein-Land» der Gegenwart werden konnte.

Georg Klein

ANHANG

Mark Twain

(1835-1910)

wuchs als Samuel Langhorne Clemens am Ufer des Mississippi auf. Nach dem Abbruch der Schule wurde er Setzerlehrling, dann Schiffslotse - aus dieser Zeit stammt sein Autorenpseudonym (zu dt. «Markiere zwei Faden»). Bei seiner Rückkehr aus dem Sezessionskrieg ging er auf Silbersuche und versuchte sich als Journalist. Rasche schriftstellerische Erfolge führten ihn auf ausgedehnte Vortrags- und Studienreisen, mehrmals auch nach Europa.

Die lebensnahen Dialoge, die subtilen Erzählpointen und die einprägsamen Charaktere in seinen Romanen und Erzählungen begründeten Twains legendären Ruhm. Der Tradition des western humor verpflichtet, wurde er zum Vorbild der modernen amerikanischen Prosa.

Georg Klein

geboren 1953 in Augsburg, lebt mit seiner Frau, der Autorin Katrin de Vries, und zwei Kindern an der Nordsee, in der Nähe der holländischen Grenze. Er schreibt erzählende Prosa. 1999 erhielt er den Brüder-Grimm-Preis für den Roman Libidissi, 2000 den Ingeborg-Bachmann-Preis für Barbar Rosa. Eine Detektivgeschichte.

Frank Heibert

geboren 1960 in Essen, lebt in Berlin. Er studierte Romanistik und Germanistik in Berlin, Rom und Paris; Promotion über das Wortspiel und seine Übersetzung. Seit 1983 ist er Literaturübersetzer aus dem Englischen, Französischen, Portugiesischen und Italienischen, u. a. von Boris Vian, Alfred Jarry und Don DeLillo.

EDITORISCHE NOTIZ

Mark Twain schrieb A Murder, a Mystery, and a Marriage im Jahre 1876 als «blindfold novelette». So nannte man eine damals überaus beliebte Art von Erzählung, mit der andere Schriftsteller zum Ausführen eines vorgegebenen PlotSchemas animiert werden sollten. In diesem Fall hatte man etwa an Henry James und William Dean Howells gedacht, allerdings kam das Projekt nie zustande und die Geschichte geriet in Vergessenheit.

Erst 1946 - sechsunddreißig Jahre nach Mark Twains Tod -erschien A Murder, a Mystery, and a Marriage als Privatdruck in kleiner Auflage. Als wenig später der Oberste Gerichtshof von New York eine weitere Verbreitung wegen rechtlicher Bedenken untersagte, fiel der Text, der breiten Öffentlichkeit unbekannt geblieben, erneut der Vergessenheit anheim. Einem Bibliothekar an der Public Library der Universität von Buffalo, New York, gebührt die Ehre, ihn vor kurzem wiederentdeckt zu haben.

Das wechselvolle Schicksal von A Murder, a Mystery, and a Marriage hat nun dazu geführt, daß die deutsche Erstübersetzung zeitgleich mit der amerikanischen Originalausgabe erscheinen kann: einhundertfünfundzwanzig Jahre nach der Niederschrift.