Выбрать главу

Das Sich-Nähren von der Scholle und die Sicherheit der begrenzten Verhältnisse, das Dasein als Farmer bringt John Gray nicht in Einklang mit der Welt. Sein letzter Lebenstraum, gerade in seiner Unerfüllbarkeit schmerzlich süß, gilt einem echten Vermögen, einer großen Menge jederzeit verfügbaren Geldes. Der Erzähler Mark Twain hat ein untrügliches Gespür dafür, wie sich diese Sehnsucht nach viel Geld in einen schändlichen Zusammenhang setzen läßt. Im Fall Grays verwendet er einen Einfall, auf den er wiederholt zurückgegriffen hat.

Gleich die erste Szene zeigt die alten Grays im Ehebett. Im ersten Dialog des Textes erwägt das Paar die Chancen ihrer Tochter Mary, durch Erbschaft oder Heirat an eine größere Summe zu kommen. Damit ist der innerste soziale Kreis des amerikanischen Lebens, die Familie, und als deren intimster Ort das Bett, in dem die nächste Generation gezeugt wird, vom Geld und von der Gier nach ihm erobert.

Die letzte große Versuchung aber muß, wie so oft in Mark Twains Geschichten, von außen kommen. Sein erzählerisches Kalkül, das von dem Wissen zeugt, wie man die Schraube des Plots mit einer überraschenden Drehung noch tiefer in die Phantasie des Lesers treibt, läßt die entscheidende Figur, den teuflischen Versucher, dieses Mal sogar aus den Wolken stürzen. Aber warum muß es ausgerechnet ein Europäer und partout ein Franzose sein?

III

Von Twain ist das Bonmot überliefert, es sei schon wahr, daß der moderne Amerikaner oft nicht wisse, wer sein Großvater gewesen sei. Aber damit habe man es in den USA immer noch besser als in Frankreich, wo keiner ganz sicher sei, ob er seinen Vater zum Vater habe. Auch in Eine Bluttat, ein Betrug und ein Bund fürs Leben spekuliert Twain mit diesem Vorurteil von den moralisch fragwürdigen Franzosen. So grell sind die kultivierte Falschspielerei des Fremden vor den Dörflern und seine galante Verlogenheit gegenüber Mary gezeichnet, daß den heutigen Leser nur noch die Persiflage des Vorurteils amüsieren mag.

Twains Zeitgenossen jedoch hätten dies gewiß anders empfunden, wäre die Geschichte in Druck gegangen. Ein Blick auf die Prospekte, mit denen für die Subskription von Twains Büchern geworben wurde, zeigt, wie sehr der Autor und sein Humor damals allen true Americans ans patriotische Herz gelegt wurde. Er, dessen manchmal geistreiche, oft schamlos rüde und nicht selten plump klischeehafte Attacken gegen die Europäer und ihre angeblichen Nationalcharaktere Legion sind, wurde schon zu Lebzeiten als amerikanische Integrationsfigur vermarktet, und er hat das damit verbundene publizistische Spiel immer wieder gekonnt ausgereizt.

Die Zeit war günstig für einen, der das Zeug dazu hatte: der als Vortragsredner mit seinen schauspielerischen und rhetorischen Fähigkeiten und als Journalist mit seinem polemischen Talent glänzen konnte. In der Mitte des 19.

Jahrhunderts beginnt die junge nordamerikanische Nation Europa als ein bildliches Gegenüber, als ihren Widerpart zu begreifen. Wohlhabende Amerikaner gehen auf Europa-Tour. Und Reiseberichte aus dem auf neue Weise entdeckten alten Kontinent füllen die großen amerikanischen Blätter. Die Gesichter Europas sollen helfen, das eigene Konterfei zu erfassen. Dabei geht es nicht darum, die Herkunft der jungen amerikanischen Kultur zu verstehen. Man will die eigene Identität nicht geschichtlich begründen, sondern deren Eigenart ahistorisch durch schlichte Abgrenzung gegen Andersartiges als etwas fast naturhaft Eigentümliches bestimmen.

IV

Twains erstes Buch, sein erster nachhaltiger Erfolg als Autor, The Innocents Abroad, faßt den

journalistischen Ertrag einer Fahrt über den Atlantik zusammen und dient diesem Zweck. Und auf seinen ausgedehnten, gut bezahlten Vortragsreisen, die ihn Abend für Abend vor ein Publikum führten, das es in freier Rede zu gewinnen galt, war die europäische Karte ein Trumpf in seinem Ärmel. Wahrscheinlich hat der für seinen zupackenden, notfalls derben Witz berühmte Alleinunterhalter die Schranken eines fundierten und ausgewogenen Urteils, die er schon in seinen Texten selten wahrt, bereitwillig durchbrochen, wenn es galt, gut über die Rampe zu kommen und dem Affen des humorigen Einverständnisses Zucker zu geben. Twain hat sich nie gescheut, seinen Landsleuten, deren Fehler er gnadenlos geißeln konnte, als Publikum ebenso erbarmungslos zu schmeicheln. Der Franzose, der in unserer Geschichte drei verschiedene Namen führt, ist nicht nur ein Betrüger, sondern er wird sogar zum Mörder. Und daß ihm die personifizierte amerikanische Unschuld, die naive Mary, und deren Erbe dann in letzter Sekunde doch nicht in die Hände fallen, ist einer so haarsträubend jähen und unglaubwürdigen Wendung des Plots zu verdanken, daß man aus heutiger Sicht geneigt ist, eine tiefere Ironie des Autors am Werke zu sehen. Ausgerechnet der Dörfler, der bei der Mordtat Schmiere gestanden hat, läßt sich von der drohenden Hinrichtung des unschuldigen Hugh rühren und gesteht seine Mittäterschaft. So viel Mitgefühl und Gewissen paßt eigentlich nicht in das Bild, das die Erzählung zuvor von der emotionalen und moralischen Verfassung der Dorfgemüter gegeben hat Eher ist diese Wendung zum Guten ein greller Witz, wie ihn Twain nicht selten auf Kosten der Wahrscheinlichkeit reißt, oder das Happy-End ist schlichter Berechnung zu verdanken. Es liefert, was die Zeitschriftenherausgeber und wohl auch der Autor für die Erwartung der Leser halten.

V

Wie mit den meisten seiner Arbeiten verfolgte Twain auch mit dieser Geschichte ein klares publizistisches Interesse. A Murder, a Mystery, and a Marriage ist seine Version einer «blindfold novelette», die er 1876 für die Zeitschrift Atlantic Monthly konzipierte. Nach einem Plot-Schema, das die wesentlichen Elemente der Handlung vorgab, sollten eine Reihe von bekannten Autoren Geschichten schreiben. Dabei blieb es jedem überlassen, mit seinen erzählerischen Möglichkeiten der skelettartigen Vorgabe einen charakteristischen Textkörper und als dessen Krönung ein überzeugendes Ende zu geben. Das Projekt, das Twain fast ein Jahr lang beschäftigte, scheiterte am Zaudern der Kollegen. Keiner der angesprochenen Schriftsteller war letztlich bereit, mit Twain in den Ring des direkten Vergleichs zu klettern. Und sogar Twains Ausführung der eigenen Vorlage blieb unveröffentlicht und darf nun mit hundertfünfundzwanzig Jahren Verspätung das Licht einer weltweiten Öffentlichkeit erblicken.

Die Briefe, die Twain in jenem Jahr schreibt und in denen die Erzählung als Projekt auftaucht, zeigen ihn als den rührigen Literaturunternehmer, der er über Jahrzehnte hinweg mit schwankendem Erfolg war. Nicht nur der Niederschrift, sondern dem gesamten weiteren Weg seiner Texte gehört sein Augenmerk. Twain bedenkt, auf welchen Bühnen und Märkten er als Autorenfigur ins Licht tritt. Er kümmert sich um Rechte, Werbung und Vertrieb. Er ist der erste Schriftsteller, von dem man weiß, daß er einen Zeitungsausschnittsdienst beauftragte, alle Meldungen, in denen sein Name auftaucht, zu sammeln.

Die heutzutage vielbeschworene Ökonomie der Aufmerksamkeit ist bei ihm nicht beziehungslose Theorie, sondern Organisationsform seiner Erfahrung und Voraussetzung seiner publizistischen Praxis. Mehr als einmal hat er geäußert, daß er mit seinem Schreiben die Massen gewinnen wolle. Und der angepeilte average reader hat für Twain bereits den Status eines modernen Konsumenten, den man im Lärm der Konkurrenz erreichen, umwerben, notfalls auch zur Lektüre überlisten muß. Twains wieder entdeckte Erzählung gehört wie andere seiner Prosatexte aus dieser Zeit zu seinen Versuchen, auf dem wachsenden Markt für Mystery, für Spannungsliteratur mit Kriminalsujets, Fuß zu fassen.