Kurz nachdem man sie aus dem MRT geholt hatte, machte Xopi Reung den Abgang. Reynolt wandte sich von der Wiederinbetriebnahme des Obergeschosses ab und verbrachte ein paar fieberhafte Augenblicke mit der Übersetzerin. Hier hatte sie keinen Erfolg. Hundert Sekunden später hatte die außer Kontrolle geratene Infektion Reungs Hirnstamm vergiftet — und der Rest war egal. Reynolt betrachtete den reglosen Körper noch eine Sekunde lang mit gerunzelter Stirn. Dann bedeutete sie den Technikern mit einer Geste, den Leichnam fortzuschaffen.
Pham beobachtete Trixia Bonsol, wie sie aus der Klinik gebracht wurde. Sie lebte noch; Reynolt selbst war am vorderen Ende von Bonsols Trage.
Trud Silipan folgte ihr zur Tür. Plötzlich schien er sich der beiden Besucher zu erinnern. Er wandte sich um und bedeutete ihnen, ihm zu folgen. »Also gut, Trinli. Ende der Vorstellung.«
Silipans Gesicht war finster und blass. Der genaue Grund für den Kontrollverlust war noch unbekannt; es war irgendeine obskure Wechselwirkung zwischen den Blitzköpfen. Truds Art, das Blitzernetz zu benutzen — seine Anfrage zu Beginn der Debatte —, hätte eine harmlose Verwendung der Ressourcen sein müssen. Doch Trud befand sich am äußersten Ende einer großen Pechsträhne. Selbst wenn seine Anfrage das Debakel nicht ausgelöst hatte, hing sie damit zusammen. Bei einer Dschöng-Ho-Operation wäre Silipans Anfrage einfach eine weitere Komponente gewesen. Leider hatten die Aufsteiger einige sehr nachträglich wirkende Methoden, Verfehlungen zu definieren.
»Geht bei dir alles in Ordnung, Trud?«
Silipan deutete ein ängstliches kleines Achselzucken an und trieb sie aus der Klinik. »Flieg zurück zum Temp — und lass Vinh nicht kommen, um nach seinem Blitzkopf zu sehen.« Er machte kehrt und folgte Reynolt.
Pham und Vinh wanderten aus den Tiefen von Hammerfest nach oben, allein, abgesehen von den zweifellos gegenwärtigen Schnüfflern Brughels. Der Vinh-Junge war still. In mancher Hinsicht war das heute der ärgste Schlag ins Gesicht gewesen, den er seit Jahren erduldet hatte, vielleicht seit Jimmy Diems Tod. Für einen x Generationen entfernten Nachkommen hatte Ezr Vinh ein Gesicht, das durchweg viel zu vertraut aussah. Er erinnerte Pham an Ratko Vinh, als Ratko jung gewesen war; er hatte viel von Suras Gesicht. Das war kein angenehmer Gedanke. Vielleicht versucht mir mein Unterbewusstsein etwas zu sagen… Ja. Nicht nur in der Klinik, sondern schon diese ganze Wache über. Immer wieder einmal schaute ihn der Junge an… und der Blick war eher abschätzend als abschätzig. Pham dachte zurück und versuchte sich zu erinnern, wie sich dieser Trinli-Typ nun genau verhalten hatte. Gewiss war es riskant, sich derart für Fokus zu interessieren. Doch dafür hatte er als Tarnung Truds Pfuschereien. Nein, selbst während sie in der Klinik standen und Phams Denken völlig auf Reynolt und das Rätsel um Bonsol konzentriert war — er war sicher, dass er selbst da nicht anders ausgesehen hatte als gelinde verwirrt, ein alter Scharlatan, der sich Sorgen machte, dass dieses Debakel die Geschäfte vereiteln würde, die er und Trud planten. Dennoch hatte dieser Vinh ihn irgendwie durchschaut. Wie? Und was war da zu machen?
Sie kamen aus dem senkrechten Hauptkorridor und bewegten sich den Weg die Rampe zu den Taxischleusen entlang. Die Mauerarbeiten der Fokussierten waren überall, an Decken, Wänden und Fußböden. Stellenweise waren die Diamantwände zu dünnen Scheiben geglättet worden. Blaues Licht — das Licht der vollen Arachna — fiel weich durch den Kristall, je nach Wanddicke dunkler oder heller. Da von L1 aus die Arachna immer die volle Scheibe zeigte und der Felshaufen zwischen Planet und Sonne gehalten wurde, war das Licht seit Jahren unverändert. Vielleicht hatte es eine Zeit gegeben, da sich Pham Nuwen in diese Kunst verliebt hätte, doch jetzt wusste er, wie sie erzeugt worden war. Wache um Wache waren er und Trud Silipan diese Rampe entlanggekommen und hatten Arbeiter gesehen, die den Diamant schnitten. Nau und Brughel hatten das Leben von Blitzköpfen ohne wissenschaftliche Ausbildung verplempert, um diese Kunst herzustellen. Pham vermutete, dass mindestens zwei an Altersschwäche gestorben waren. Die Überlebenden waren jetzt auch fort, wahrscheinlich beendeten sie die Arbeiten in weniger bedeutenden Korridoren. Wenn ich an der Macht bin, wird das anders. Fokus war so eine schreckliche Sache. Er durfte nie anders als für die unerlässlichsten Zwecke benutzt werden.
Sie kamen an einem Korridor vorbei, der mit im Tank gezüchtetem Holz getäfelt war. Die Maserung wirbelte glatt, passend zur Krümmung des Korridors, der nach unten zu Tomas Naus privaten Wohnräumen führte.
Und da war Qiwi Lin Lisolet. Vielleicht hatte sie sie kommen hören. Wahrscheinlicher war, dass sie ihren Aufbruch von der Klinik gesehen hatte. So oder so, sie hatte lange genug gewartet, um mit den Füßen am Boden zu stehen wie unter normaler planetarer Schwerkraft.
»Ezr, bitte. Können wir reden, nur einen Moment? Ich habe nicht gewollt, dass diese Vorstellungen jemandem wehtun…«
Vinh hatte sich vor Pham schweigend durch den Korridor gezogen. Sein Kopf ruckte hoch, als er Qiwi sah. Einen Augenblick lang sah es aus, als könnte er an ihr vorbeischweben. Dann begann sie zu sprechen. Vinh stieß hart gegen die Wand und trieb schnell und direkt auf sie zu. Die Aktion war ebenso unverkennbar feindselig wie ein Faustschlag ins Gesicht.
»He, was soll…?«, platzte Pham heraus und zwang sich, in scheinbarem Unvermögen zurückzubleiben. Er hatte den Burschen heute schon einmal abgefangen, und diesmal würde die Szene den Schnüfflern ziemlich klar sein. Außerdem hatte Pham zugesehen, wie Qiwi draußen arbeitete. Sie war in besserer Verfassung als sonst jemand bei L1 und ein akrobatisches Naturtalent. Vielleicht würde es Vinh guttun, zu erfahren, dass er seine Wut nicht an ihr auslassen konnte.
Doch Qiwi wehrte sich nicht, zuckte nicht einmal zurück. Vinh drehte sich herum und verpasste ihr mit der Handfläche eine kräftige Ohrfeige, dass sie beide auseinander taumelten. »Ja, wir werden reden!« Vinhs Stimme war abgehackt. Er schnellte sich zu ihr zurück und schlug abermals zu. Und abermals wehrte sich Qiwi nicht, hob nicht einmal die Hände, um das Gesicht zu bedecken.
Und Pham Nuwen stieß sich vorwärts, noch ehe er wirklich nachgedacht hatte. Etwas im Hintergrund seines Geistes lachte ihn aus, dass er Jahre der Verstellung aufs Spiel setzte, nur um eine Unschuldige zu schützen. Aber dasselbe Etwas jubelte auch.
Phams Sprung wurde zu einer anscheinend unkontrollierten Drehbewegung, die rein zufällig seine Schulter in Vinhs Eingeweide rammte und ihn gegen die Wand schleuderte. Außer Sicht aller Kameras gab Pham seinem Gegner den Ellbogen zu kosten. Einen Augenblick nach dem Zusammenprall knallte Vinhs Kopf gegen die Wand. Wenn sie noch in den Korridoren von geschnittenem Diamant gewesen wären, hätte das eine ernste Verletzung bedeuten können. Auch so schon bewegte Vinh, als er von der Wand zurückkam, nur schwach die Arme. Kleine Bluttröpfchen sprühten von seinem Hinterkopf weg.
»Such dir jemanden von deiner eigenen Kragenweite, Vinh! Feiges, elendes Stück Ungeziefer. Ihr Kauffahrer aus den Großen Familien seid doch einer wie der andere.« Phams Wut war echt — doch er war auch auf sich selbst wütend, dass er seine Tarnung aufs Spiel setzte.
Langsam stellte sich in Vinhs Augen wieder Vernunft ein. Er warf einen Blick auf Qiwi vier Meter weiter im Gang. Das Mädchen erwiderte den Blick, ihr Gesichtsausdruck war eine seltsame Kombination von Schock und Entschlossenheit. Und dann schaute Vinh zu Pham, und dem alten Mann lief es kalt den Rücken hinunter. Vielleicht hatten Brughels Kameras nicht alle Einzelheiten des Kampfes mitbekommen, doch der Junge wusste, wie wohlkalkuliert Phams Angriff gewesen war. Einen Moment lang starrten die beiden einander an, und dann ließ Vinh mit einem Zucken seinen Halt los und schoss die Rampe zu den Taxischleusen entlang. Es war der eilige Rückzug eines blamierten und geschlagenen Mannes. Aber Pham hatte den Ausdruck in seinen Augen gesehen; er würde etwas in Sachen Ezr Vinh unternehmen müssen.