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Sein nächster Dienst begann in vierzig Kilosekunden; Ezr ging früh in sein Quartier zurück. Es würde eine Weile dauern, bis er mit Bennys Salon wieder zurecht kam. So viel war geschehen, und es war alles schändlich oder schmerzhaft oder von tödlichem Geheimnis erfüllt. Er schwebte im Halbdunkel seines Zimmers, aufgespießt auf dem Bratenspieß der Hölle. Er dachte eine Zeit lang ohnmächtig über ein Problem nach… und flüchtete dann zu etwas, das alsbald ebenso schrecklich war, und flüchtete abermals… um schließlich zu dem ersten Schrecken zurückzukehren.

Qiwi. Das war seine Schande. Er hatte sie zweimal geschlagen. Hart. Wenn Pham Trinli nicht dazwischengegangen wäre, hätte ich sie weiter geschlagen? Da tat sich vor ihm ein Schrecken auf, den er sich nie hätte träumen lassen. Gewiss, er hatte immer Angst gehabt, eines Tages könnte er einen Bock schießen oder sogar feige sein, aber… heute hatte er etwas in sich erblickt, etwas von Grund auf Unanständiges. Qiwi hatte dazu beigetragen, Trixia auszustellen. Gewiss. Doch sie war nicht die Einzige, die darin verwickelt war. Und ja, Qiwi genoss Vorteile unter Tomas Nau… aber Gott, sie war erst ein Kind gewesen, als das alles begann. Warum also habeich mich auf sie gestürzt? Weil es einst so ausgesehen hatte, als sei er ihr nicht gleichgültig? Weil sie sich nicht wehrte? Das war es, worauf die unerbittliche Stimme im Hintergrund seines Geistes beharrte. Im Innersten war Ezr Vinh vielleicht nicht einfach unfähig oder schwach, vielleicht war er einfach Dreck. Ezrs Denken drehte sich immer wieder um diese Schlussfolgerung, kam ihr immer näher, bis er seitwärts flüchtete zu…

Pham Trinli. Das war das Geheimnis. Gestern hatte Trinli zweimal gehandelt, beide Male hatte er Ezr davor bewahrt, ein noch größerer Narr und Schurke zu sein. Über Ezrs Hinterkopf zog sich ein blutiger Grind, wo Trinlis ›schwerfälliger‹ Körperstoß ihn gegen die Wand geschleudert hatte. Ezr hatte Trinli im Sportraum des Temps gesehen. Der alte Mann trieb ziemlich großen Aufwand, aber sein Körper war nicht in besonders guter Verfassung. Seine Reaktionszeit machte nicht viel her. Aber irgendwie wusste er sich zu bewegen, Zufälle eintreten zu lassen. Und wenn er zurückdachte, erinnerte sich Ezr an frühere Gelegenheiten, wo Pham Trinli am rechten Ort war… Der Temp-Park direkt nach dem Massaker. Was hatte der alte Mann eigentlich gesagt? Es hatte den Kameras nichts offenbart, hatte nicht einmal Ezrs Aufmerksamkeit erregt — aber etwas, das er gesagt hatte, hatte die Gewissheit wachgerufen, dass Jimmy Diem ermordet worden war, dass Jimmy an allem, was Nau behauptete, unschuldig war. Alles, was Pham tat, war laut und egoistisch und unfähig, dennoch… Ezr überdachte alle Einzelheiten wieder und wieder, Dinge, die er vielleicht sehen konnte, während sie anderen entgingen. Womöglich sah er in seiner Verzweiflung schon Trugbilder. Wenn Probleme so anwachsen, dass auf keine Lösung mehr zu hoffen ist, schleicht sich der Wahnsinn ein. Und gestern war etwas in ihm zerbrochen…

Trixia. Das war der Schmerz und die Wut und die Angst. Gestern war Trixia dem Tod sehr nahe gewesen, ihr Körper so gequält und gekrümmt wie der von Xopi Reung. Vielleicht sogar schlimmer… Er erinnerte sich, wie ihr Gesicht ausgesehen hatte, als sie aus dem MRT-Programmgerät kam. Trud sagte, ihre linguistischen Fähigkeiten seien vorübergehend heruntergeschraubt worden. Vielleicht war das der Grund für ihre Verzweiflung — das Einzige zu verlieren, das ihr noch etwas bedeutete. Und vielleicht log er, wie Ezr Reynolt und Nau und Brughel im Verdacht hatte, in so vielen Dingen zu lügen. Vielleicht war Trixia wirklich kurzzeitig defokussiert worden und hatte sich umgeschaut und gesehen, wie alt sie geworden war, und erkannt, dass man ihr das Leben gestohlen hatte. Und vielleicht werde ich es niemals erfahren. Ich werde sie weiterhin Jahr für Jahr beobachten, ohnmächtig und wütend und… schweigend. Es musste jemanden geben, gegen den man losschlagen, den man bestrafen konnte…

Und so war der Bratenspieß wieder zu Qiwi herumgegangen.

Zwei Kilosekunden verstrichen, vier. Zeit genug, um wieder und wieder zu den Problemen zurückzukehren, für die es keine Lösung gab. Derlei war schon früher bei etlichen schrecklichen Gelegenheiten passiert. Manchmal hatte er die ganze Nacht auf dem Bratenspieß verbracht. Manchmal wurde er so müde, dass er einfach einschlief — und dann hörte es auf. Heute Nacht, als er zum x-ten Male über Pham Trinli nachdachte, wurde Ezr wütend. Und wenn er just verrückt wäre? Wenn ihm nichts blieb als Trugbilder einer Rettung, na schön, greif zu! Vinh stand auf und setzte die Datenbrille auf. Schwerfällige Sekunden vergingen, ehe er durch die Zugangsroutinen der Bibliothek hindurch war. Er hatte sich noch immer nicht an die miese E/A-Schnittstelle der Aufsteiger gewöhnt, und anständige Automatik hatten sie noch nicht wieder zugeschaltet. Doch dann leuchteten rings um ihn die Fenster mit Text aus dem letzten Bericht auf, den er für Nau anfertigte.

Was also wusste er über Pham Trinli? Vor allem, was wusste er, das Nau und Brughel entgangen war? Der Kerl hatte ein unheimliches Geschick im Nahkampf — genauer gesagt, in Überfällen. Und er verbarg diese Fähigkeit vor den Aufsteigern; er spielte ein Spiel mit ihnen… Und von heute an musste er wissen, dass Vinh es wusste.

Vielleicht war Trinli einfach ein alternder Verbrecher, der sein Möglichstes tat, um sich einzupassen und zu überleben. Doch was war dann mit den Ortern? Trinli hatte ihr Geheimnis Tomas Nau offenbart, und jenes Geheimnis hatte Naus Macht verhundertfacht. Die winzigen Stäubchen Automatik waren überall. Da auf seinem Fingerknöchel — das konnte ein Schweißtröpfchen sein, aber auch ein Orter. Die kleinen Fünkchen und Fleckchen konnten jetzt eben die Lage seiner Arme melden, einiger seiner Finger, die Haltung des Kopfes. Naus Schnüffler würden es alles erfahren.

Diese Fähigkeiten waren in der Flottenbibliothek einfach nicht dokumentiert, nicht einmal mit den höchstrangigen Passwörtern. Pham Trinli kannte also Geheimnisse, die weit in die Vergangenheit der Dschöng Ho zurückreichten. Und sehr wahrscheinlich war das, was er Tomas Nau offenbart hatte, nur eine Tarnung für… wofür?

Ezr grübelte lang über dieser Frage, kam nicht weiter. Also über den Mann nachdenken. Pham Trinli. Er war ein alter Fuchs. Er kannte wichtige Geheimnisse über der Ebene von Flottengeheimnissen der Dschöng Ho. Höchstwahrscheinlich war er bei der Gründung der modernen Dschöng Ho dabeigewesen, als Pham Nuwen und Sura Vinh und der Rat der Lücke ihr Werk vollbracht hatten. Also war Trinli in objektiven Jahren enorm alt. Das war nicht unmöglich, nicht einmal überaus selten. Lange Handelsmissionen konnten einen Kauffahrer über tausend Jahre objektive Zeit hinwegtragen. Seine Eltern hatten ein paar Freunde, die tatsächlich auf der Alten Erde gewesen waren. Dennoch war es höchst unwahrscheinlich, dass einer von ihnen Zugang zu den grundlegenden Ebenen der Dschöng-Ho-Automatik besaß.

Nein, wenn Trinli das war, was aus Ezrs wahnwitzigen Überlegungen folgte, dann müsste er eine Gestalt sein, die in der Geschichtsschreibung sichtbar war. Wer?

Vinhs Finger tippten auf der Tastatur. Sein laufender Auftrag war eine gute Tarnung für die Fragen, die er stellen wollte. Nau hegte ein unersättliches Interesse an allem, was die Dschöng Ho betraf. Vinh sollte ihm Zusammenfassungen schreiben und Forschungsrichtungen für die Blitzköpfe vorschlagen. So gesetzt und diplomatisch er auch scheinen mochte, hatte Ezr doch längst erkannt, dass Nau sogar noch wahnsinniger als Brughel war. Nau lernte, um eines Tages zu herrschen.

Sei vorsichtig! Die Stellen, wo er wirklich nachschauen wollte, mussten von den Erfordernissen des zu schreibenden Berichts vollkommen abgesichert sein. Vor allem musste er ein Zufallsmuster von wirklich irrelevanten Bezügen wahren. Sollten die Schnüffler versuchen, seine Absichten darin zu finden!