Viki huschte munter durch die morgendliche Kälte und blieb mühelos neben ihrem Bruder mit seinen langsamen, längeren Schritten. So früh war kaum jemand auf der Straße. Abgesehen vom Klang ferner Bauarbeiten konnte sie sich fast vorstellen, sie wären ganz allein, die Stadt sei verlassen. Man stelle sich vor, wie es in den kommenden Jahren sein würde, wenn die Kälte blieb und sie nur so hinausgehen konnten, wie es Papa im Krieg mit den Bassern getan hatte. Den ganzen Weg bis zum Fuß des Hügels baute Viki die Idee aus, wendete jeden Anblick des frostigen Morgens ins Phantastische. Brent hörte zu und machte ab und zu einen Vorschlag, der die meisten erwachsenen Freunde Papas überrascht hätte. Brent war durchaus nicht so dumm, und er hatte Vorstellungskraft.
Die Zackenberge lagen dreißig Meilen entfernt, jenseits vom hohen Schloss des Königs, jenseits des anderen Endes von Weißenberg. Sie konnten unmöglich zu Fuß dorthin gehen. Doch heute wollten viele Leute zu den nahen Bergen reisen. Der Erste Schnee bedeutete in jedem Land ein ansehnliches Fest, obwohl er natürlich zu unterschiedlichen und nicht vorherzusagenden Zeiten eintraf. Viki wusste, dass, wenn der frühe Schnee vorhergesagt worden wäre, Papa früh aufgestanden wäre und Mama vielleicht vom Landeskommando herübergeflogen wäre. Der Ausflug wäre eine große Familienangelegenheit gewesen — aber kein bisschen abenteuerlich.
Eine Art Abenteuer begann am Fuße des Hügels. Brent war jetzt sechzehn und groß für sein Alter. Er konnte als Rechtzeitling durchgehen. Er war schon oft genug allein außer Haus gewesen. Er sagte, er wisse, wo die Expressbusse hielten. Heute gab es keine Busse und überhaupt kaum Verkehr. Waren alle schon fort zu den Bergen?
Brent marschierte von einer Bushaltestelle zur anderen und wurde allmählich immer aufgeregter. Viki blieb schweigend an seiner Seite und machte mal keine Vorschläge. Brent wurde oft genug geduckt, sodass er selten behauptete, irgendetwas zu wissen. Es tat weh, wenn er sich schließlich vernehmen ließ — und sei es einer kleinen Schwester gegenüber — und sich dann als im Irrtum erwies. Nach dem dritten Fehlstart hockte er sich knapp über dem Boden hin. Einen Moment lang glaubte Viki, er würde darauf warten, dass ein Bus vorbeikäme — für Viki eine ausgesprochen unangenehme Möglichkeit. Sie waren seit über einer Stunde draußen und hatten noch nicht einmal einen kleinen Stadtbus gesehen. Vielleicht würde sie ihre spitzen kleinen Hände in das Problem stecken müssen… Doch nach einer Minute stand Brent auf und ging, über die Straße. »Ich wette, die Tiefbauer haben heute nicht frei bekommen. Das ist nur eine Meile südlich von hier. Von dort gehen immer Busse.«
Ha. Das war genau das, was Viki selbst gerade hatte vorschlagen wollen. Gesegnet sei die Geduld.
Die Straße lag still im morgendlichen Schatten. Dies war der tiefste Winter in Weißenberg. Hier und da war der Reif in den dunkleren Höhlungen so tief, dass er selbst Schnee hätte sein können. Doch der Stadtteil, durch den sie jetzt gingen, hatte keine Gärten. Die einzigen Pflanzen waren widerspenstiges Unkraut und freie Kriecher. An schwülen, heißen Tagen zwischen Unwettern hätte es auf dem Platz Mücken und Sauger gegeben.
Auf beiden Seiten der Straße standen mehrstöckige Lagerhäuser. Hier war es nicht so still und verlassen. Der Boden surrte und brummte — die Geräusche unsichtbarer Grabmaschinen. Schwere Lastwagen fuhren in das Gebiet und wieder heraus. Alle paar hundert Meter war ein Flecken Land für alle außer den Bautrupps abgesperrt. Viki zog an Brents Armen und wollte unter den Absperrungen durchkriechen. »He, es ist unser Papa, der das alles bewirkt hat! Wir haben ein Recht, es uns anzusehen!« Brent akzeptierte derlei Argumente nie, doch seine kleine Schwester war schon an den Verbotsschildern vorbei. Er musste ihr folgen, und sei es, um sie zu beschützen.
Sie krochen an großen Bündeln Bewehrungsstahl vorbei und an Stapeln von Ziegeln. Dieser Ort hatte etwas Machtvolles und Fremdartiges. Im Haus auf dem Hügel war alles so sicher, so ordentlich. Hier… nun, sie sah endlose Möglichkeiten, wie sich jemand Unvorsichtiges einen Fuß aufschlitzen, ein Auge schneiden konnte. Verdammt, wenn man eine von diesen stehenden Platten umkippte, würde sie einen platt quetschen. Alle Möglichkeiten standen ihr kristallklar vor dem inneren Auge… und sie waren aufregend. Die beiden gingen vorsichtig zum Rand der Baugrube, wichen den Blicken der Arbeiter und diversen interessanten Gelegenheiten zu schweren Unfällen aus.
Das Geländer waren zwei Bindfäden. Wenn du nicht sterben willst, fall nicht runter! Viki und ihr Bruder hielten sich dicht am Boden und streckten die Köpfe über den Abgrund. Einen Augenblick lang war es zu dunkel zum Sehen. Die erhitzte Luft, die aufstieg, trug den Geruch von brennendem Öl und heißem Metall. Es war eine Liebkosung und ein Schlag vor den Kopf zugleich. Und die Geräusche: die Rufe von Arbeitern, das Knirschen von Metall auf Metall, Maschinen und ein seltsames Zischen. Viki senkte den Kopf und ließ alle Augen sich an das Dämmerlicht anpassen. Es gab Licht, doch nicht zu vergleichen mit dem Licht von Tag oder Nacht. Sie hatte in Papas Labors kleine elektrische Bogenlampen gesehen. Diese hier waren riesig: Lichtstäbe, die größtenteils in Ultra und Fern-Ultra glühten — Farben, die man niemals hell sah, außer in der Sonnenscheibe. Die Farbe sprühte von den Hauben der Arbeiter ab, verstreute geflecktes Flimmern den Schacht auf und ab… Es gab andere, weniger spektakuläre Lichter, stetigere, elektrische Lampen, die hier und da Kleckse zahmen Lichtes ergossen. Noch zwölf Jahre bis zum Dunkel, und sie bauten dort unten eine ganze Stadt. Sie sah steinerne Straßen, riesige Tunnel, die von den Wänden des Schachts wegführten. Und in den Tunneln erspähte sie dunklere Löcher… Rampen zu kleineren Grabungsstellen? Gebäude und Gärten würden später folgen, doch die Höhlen waren schon größtenteils gegraben. Als sie hinabschaute, fühlte Viki eine Anziehung, die ihr neu war, die natürliche, schützende Anziehung einer Tiefe. Doch was diese Arbeiter taten, war tausendmal großartiger als jede Tiefe. Wenn man weiter nichts vorhatte, als das Dunkel durchzuschlafen, brauchte man nur Platz genug für den Schlafteich und einen Vorrat für den Anfang. Das gab es bereits in den städtischen Tiefen unter dem alten Stadtzentrum, und zwar seit fast zwanzig Generationen. Diese neuen Bauten waren bestimmt, darin zu leben, wach. An manchen Orten, wo hermetische Abschließung und Isolation gewährleistet werden konnten, wurden sie direkt am Boden errichtet. Andernorts wurden sie Hunderte von Metern tief eingegraben, eine unheimliche Umkehrung der Gebäude, die Weißenbergs Silhouette bildeten.
Viki starrte und starrte, in Träume verloren. Bisher war es alles eine Geschichte von weitem gewesen. Klein Viktoria hatte davon gelesen, hatte ihre Eltern und Leute im Radio darüber reden gehört. Sie wusste, dass dies so gut wie nur irgendetwas der Grund war, warum viele Leute ihre Familie hassten. Darum, und weil sie Unzeitlinge waren, sollten sie nicht allein ausgehen. Papa mochte zwar von Evolution in Aktion sprechen, und wie wichtig es für kleine Kinder sei, dass sie etwas riskieren dürften, wie sich, wenn man das nicht zuließ, in den Überlebenden keine Genialität entwickeln würde. Das Problem war, er meinte es nicht wirklich. Jedes Mal, wenn Viki versuchte, etwas ein wenig Riskantes zu unternehmen, wurde Papa ganz väterlich, und aus dem Projekt wurde eine rundum abgepolsterte, sichere Sache.