Sowohl Gokna als auch Viki bedeuteten mit Gesten: Nein. Gokna sagte: »Ich glaube, es sind Soldaten, Jirl, egal, was sie sagen.« Tatsächlich hatte es Lügen über Lügen gegeben. Als die Bande in der Videomantie-Ausstellung aufgetaucht war, hatten sie behauptet, sie seien von Mutters Sicherheitsdienst. Doch als sie die Kupplinge hier abgeladen hatten, redeten sie wie Trads: Die Kinder wären ein schreckliches Beispiel für anständige Leute. Man würde ihnen kein Leid zufügen, doch ihre Eltern sollten als die Perversen entlarvt werden, die sie waren. Das hatten sie gesagt, doch sowohl Viki als auch Gokna hatten bemerkt, dass es ihnen an innerer Überzeugung fehlte. Die meisten Traditionalisten im Rundfunk sprühten Gift und Galle; diejenigen, denen Viki und Gokna persönlich begegnet waren, gerieten beim Anblick von Unzeit-Kindern ganz außer sich. Die Entführer blieben gelassen; hinter der Rhetorik war klar, dass die Kinder nur eine Fracht waren. Viki hatte nur zwei ehrliche Emotionen unter ihrem Profitum bemerkt. Die Anführerin war wirklich wütend wegen der beiden gewesen, die Brent zerquetscht hatte… und hin und wieder gab es einen Anflug von Bedauern für die Kinder selbst.
Viki sah, wie Jirlib zusammenzuckte, als ihm die Bedeutung dessen aufging, doch er schwieg. Zweifaches schrilles Gelächter unterbrach sein düsteres Sinnieren. Alequere und Birbop beachteten weder Gokna und Viki noch Jirlib. Sie hatten die Spielschnur entdeckt, die Brent in seiner Jacke verborgen hielt. Alequere sprang zurück, sodass die Schnur in hohem Bogen herausgezogen wurde. Birbop sprang hin, um sie zu packen, rannte in einem raschen Kreis um Brent herum, als wolle er ihm die Beine fesseln.
»He, Brent, ich dachte, aus dem Alter wärst du heraus«, sagte Gokna mit angestrengt gut gelauntem Spott.
Brents Antwort kam langsam und ein wenig abwehrend. »Ich langweile mich, wenn ich nicht bei meinen Stäben und Verbindungsstücken bin. Fadenspiele kann man überall machen.« Darin war Brent wirklich ein Meister. Als er jünger war, hatte er sich oft auf den Rücken gerollt und alle Arme und Beine — sogar die Esshände — benutzt, um immer kompliziertere Muster zu formen. Das war die Art albernes, kompliziertes Hobby, die Brent mochte.
Birbop nahm Alequere das Ende der Schnur weg und rannte drei, vier Meter die Wand hoch, wobei er geschickt jeden winzigen Wandvorsprung ausnutzte, wie es nur die ganz jungen Leute können. Er warf das Seil seiner Schwester zu und animierte sie zu dem Versuch, ihn herabzuziehen. Als sie es tat, riss er es mit einem Ruck zurück und kletterte noch anderthalb Meter höher. Er war ganz so, wie Rhapsa in seinem Alter gewesen war, vielleicht sogar noch eine Spur flinker.
»Nicht so hoch, Birbop, du fällst herunter!« Jetzt klang Viki genau wie Papa.
Die Wände ragten oberhalb des Babies höher und höher. Und ganz oben, fünfzehn Meter über ihnen, befand sich das winzige Fenster. Hinter sich sah Viki, wie Gokna stutzte. »Denkst du dasselbe wie ich?«, fragte Viki.
»W-wahrscheinlich. Als sie klein war, hätte Rhapsa bis nach oben klettern können.« Ihre Entführer waren nicht so schlau, wie sie dachten. Jeder, der je Babies betreut hatte, hätte es besser gewusst. Doch beide männlichen Entführer waren jung, gegenwärtige Generation.
»Aber wenn er fällt…«
Wenn er fiele, gäbe es kein Kletter-Fangnetz, nicht einmal weichen Teppich. Ein Zweijähriger konnte acht oder zehn Kilo wiegen. Sie kletterten gern, es war, als ahnten sie, dass sie, wenn sie erst einmal groß und schwer wurden, nur noch Treppen steigen und die gewöhnlichsten Sprünge machen könnten. Babies konnten viel tiefer als Erwachsene fallen, ohne sich ernstlich zu verletzen, doch tiefe Stürze würden sie dennoch nicht überleben. Zweijährige wussten das nicht. Ein einfacher Vorschlag, und Birbop wäre zu dem Fenster hoch oben unterwegs. Es bestanden gute Aussichten, dass er es schaffen würde…
Normalerweise hätten sich Viki und Gokna auf jeden ausgefallenen Plan gestützt, doch hier ging es um das Leben eines anderen… Die beiden starrten einander einen Augenblick lang an. »Ich… ich weiß nicht, Viki.«
Und wenn sie nichts taten? Die Babies würden wahrscheinlich zusammen mit den anderen umgebracht werden. Wofür immer sie sich entschieden, es konnte schreckliche Folgen haben. Plötzlich hatte Viki größere Angst als je zuvor; sie ging quer durch den Raum und blieb unter dem grinsenden Birbop stehen. Ihre Arme hoben sich, als ob sie ein Eigenleben hätten, um das Baby herunterzulocken. Sie zwang die Arme nieder, zwang ihrer Stimme einen leichten, neckenden Ton auf: »He, Birbop! Denkst du, dass du die Schnur bis hinauf zu dem kleinen Fenster schaffen kannst?«
Birbop neigte den Kopf, richtete seine Babyaugen nach oben. »Klar.« Und schon war er unterwegs, huschte von Verkleidung zu Rohrhalterung, höher und höher. Ich schulde dir etwas, Kleiner, auch wenn du es nicht weißt.
Am Boden kreischte Alequere auf, wütend, dass Birbop sämtliche Aufmerksamkeit hatte. Sie ruckte hart an der Schnur, sodass ihr Bruder mit drei Armen an einem schmalen Vorsprung in sechs Meter Höhe schaukelte. Gokna riss sie vom Boden hoch und von der Schnur weg und gab sie Jirlib.
Viki versuchte, das Entsetzen abzuschütteln, das sie empfand; sie sah zu, wie das Baby immer höher kletterte. Und wenn wir an das Fenster herankommen, was dann? Zettel hinauswerfen? Aber sie hatten nichts, womit sie schreiben konnten, und sie wussten auch nicht, wo der Wind einen Zettel hintragen konnte… Und plötzlich sah sie, wie auf einen Schlag zwei Probleme zu lösen wären. »Brent, deine Jacke!« Sie streckte die Hände vor und winkte Gokna, sie solle ihm helfen, sie auszuziehen.
»Ja!« Gokna zog an den Ärmeln und Beinkleidern, fast noch ehe Viki ausgeredet hatte. Brent starrte einen Moment lang überrascht, dann erfasste er die Idee und half. Seine Jacke war fast so groß wie die von Jirlib, aber ohne die Schlitze hinten am Rücken. Die drei zogen die Jacke zwischen sich flach und gingen hin und her, um den seitlichen Bewegung des höher kletternden Birbop zu folgen. Selbst wenn er fiele, könnten sie vielleicht… In Abenteuergeschichten funktionierte so was immer. Aber wenn sie so dastanden und die Jacke hielten, wirkte es irgendwie absurd, auf solchen Erfolg zu hoffen.
Alequere kreischte immer noch und versucht, sich aus Jirlibs Griff zu befreien. Birbop lachte sie aus. Er war ganz froh, im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit zu sein und etwas zu tun, wofür er normalerweise versohlt worden wäre. Zwölf Meter hoch. Er wurde langsamer. Er fand jetzt weniger Halt, er war oberhalb der hauptsächlichen Versorgungsarmaturen. Ein paarmal verlor er beinahe die Schnur, als sie ihm von Hand zu Hand glitt. Er sammelte sich auf einem unglaublich schmalen Vorsprung und sprang den fehlenden Meter seitlich nach oben — und eine seiner Hände erwischte das Fenstergitter. Einen Augenblick später war sein Körper eine Silhouette im Licht.
Mit nur zwei Augen, und die vorn, mussten sich Babies fast vollständig herumdrehen, um hinter sich zu blicken. Jetzt schaute Birbop zum ersten Mal herab. Sein triumphierendes Lachen erstickte, als er sah, wie weit er gekommen war, so hoch, dass sogar seine Babyinstinkte ihm sagten, dass er in Gefahr war. Es gab Gründe, warum Eltern einen nicht so hoch klettern ließen, wie man wollte. Birbops Arme und Beine klammerten sich reflektorisch an das Gitter.
Und sie konnten ihn nicht davon überzeugen, dass niemand hinaufkommen konnte, um ihm zu helfen, und dass er selbst herabkommen müsste. Viki hatte mit keinem Gedanken daran gedacht, dies würde ein Problem sein. Bei den Gelegenheiten, da Rhapsa oder Klein Hrunk in bedenkliche Höhen gestiegen waren, hatte keines von beiden Schwierigkeiten gehabt, wieder herunterzukommen.
Gerade, als es den Anschein hatte, Birbop sei in einem dauernden Zustand der Lähmung, hörte seine Schwester zu weinen auf und begann ihn auszulachen. Danach war es nicht mehr schwer, ihn zu überzeugen, die Schnur durch das Gitter zu fädeln und sie anschließend als eine Art Flaschenzug für den Abstieg zu nutzen.