Die meisten Babies kamen von selbst auf diese Idee, wenn sie an einer Spielschnur abwärts glitten; vielleicht ging es auf irgendwelche tierischen Erinnerungen zurück. Birbop begann seinen Abstieg mit fünf Gliedmaßen sicher um den absteigenden Strang gewickelt und drei anderen als Bremse am aufsteigenden. Doch nachdem er ein, zwei Meter heruntergekommen war und erkannt hatte, wie glatt die Spielschnur funktionierte, hielt er sich nur noch mit drei Armen fest, und dann mit zweien. Er stieß sich mit den Füßen von den Wänden ab und flog herab wie ein springender Tarant. Unter ihm hetzten Viki und die anderen hin und her und versuchten vergeblich, mit ihrem provisorischen Netz unter ihm zu bleiben… und dann war er unten.
Und sie hatten eine Schlaufe aus Spielschnur, die sich vom Boden zum Fenstergitter und zurück erstreckte. Sie glühte und zuckte, als sie Dehnungsenergie freisetzte.
Viki und Gokna stritten sich, wer von ihnen den nächsten Schritt tun würde. Diesmal gewann Viki; sie wog unter vierzig Kilo, am wenigsten von allen. Sie zog und schaukelte an der Schnur, während Brent und Gokna das Seidenfutter aus seiner Jacke lösten. Das Futter war mit roten und ultra Klecksen gefärbt. Noch besser, es bestand aus gefalteten Lagen; wenn sie es an den Nähten auftrennten, erhielten sie eine Fahne, die leicht wie Rauch war, aber viereinhalb Meter lang. Gewiss würde es jemand bemerken.
Gokna faltete das Futter hübsch zusammen und gab es ihr. »Die Schnur, meinst du wirklich, dass sie halten wird?«
»Klar.« Vielleicht. Das Zeug war glatt und dehnbar wie jede gute Spielschnur — und was würde geschehen, wenn sie es ganz und gar ausdehnte?
Was Brent sagte, tröstete sie mehr als alles Wunschdenken: »Ich glaube, sie wird halten. Ich hänge in meinen Entwürfen gern etwas auf. Die Schnur habe ich aus dem Mechaniklabor mitgenommen.«
Viki zog ihre Jacke aus, nahm die selbstgemachte Fahne in die Esshände und begann hinaufzuklettern. In ihrer Hintersicht schrumpften die anderen zu einem besorgten kleinen Muster rings um das ›Sicherheitsnetz‹. Viel nützen würde das nicht, wenn jemand von ihrer Größe fiel. Sie pendelte hin und her, stieß sich Schritt für Schritt von der Wand ab. Eigentlich war es einfach. Sogar ein Erwachsener in voller Größe hätte keine Mühe, eine Senkrechte mit zwei Halteseilen hinaufzuklettern — solange die Seile hielten. Ebenso wie die Schnur und die Wand beobachtete sie die Tür unten. Komisch, dass sie sich bisher keine Sorgen wegen möglicher Störungen gemacht hatte. Doch der Erfolg war so nahe. Es wäre alles umsonst, wenn einer der Idioten ausgerechnet jetzt auf den Gedanken käme, nach ihnen zu sehen. Nur noch ein, zwei Meter…
Sie streckte die Hände durch das Fenstergitter und hängte sich nahe an der frischen Luft hin. Es war kein Platz, um ordentlich zu sitzen, und die Gitterstäbe standen zu dicht — nicht einmal ein Baby wäre durchgekommen — aber ach, die Aussicht! Sie befanden sich oben in einem der riesigen neuen Gebäude, mindestens dreißig Etagen hoch. Aus dem Himmel war eine wirbelnde Wolkendecke geworden, und der Wind drückte heftig gegen das Fenster. Ihr Blick hinab wurde teilweise von den Oberkanten des Gebäudes verdeckt, doch Weißenberg lag vor ihr ausgebreitet wie ein schönes Modell. Sie konnte geradewegs eine Straße entlang schauen, sah Busse, Autos, Leute. Und wenn sie zu ihr hochschauten… Viki entfaltete das Jackenfutter und schob es durchs Gitter. Der Wind riss es ihr fast weg. Sie hielt sich besser fest, zerriss den Stoff mit Handspitzen. Das Zeug war so dünn! Sachte! Sorgfältig zog sie die Enden zurück, band sie an vier verschiedenen Stellen fest. Jetzt breitete der Wind das bunte Quadrat über die Seite des Gebäude hinweg aus. Der Stoff knatterte im Wind, hob sich manchmal und verdeckte das Fenster, fiel dann wieder gegen die Wand außerhalb ihrer Sicht.
Ein letzter Blick auf die Freiheit: Drüben, wo sich Land und hängende Wolken berührten, verschwanden Hügel der Stadt im Zwielicht. Doch Viki sah genug, um sich zu orientieren. Da war ein Hügel, nicht ganz so hoch wie die anderen, aber mit einem Spiralmuster von Straßen und Bauwerken. Das Berghaus! Sie konnte bis nach Hause blicken!
Viki glitt vom Fenster herab, über alle Maßen hochgestimmt. Sie würden doch noch siegen! Sie und die anderen zogen die funkelnde Schnur herab, versteckten sie wieder in Brents Jacke. Sie saßen im herabsinkenden Dämmerlicht da und fragten sich, wann ihre Gefängniswärter wieder auftauchen würden, diskutierten, was dann zu tun sei. Der Nachmittag war schrecklich dunkel, und es begann zu regnen. Dennoch war das Geräusch des im Winde flatternden Stoffes ein Trost.
Irgendwann nach Mitternacht riss der Sturm die Fahne los und schleuderte sie in die Finsternis.
Dreissig
Das Recht der Petition an den Hülsenmeister war eine passende Tradition. Es hatte sogar eine Grundlage in historischen Tatsachen, obwohl sich Tomas Nau sicher war, dass vor Jahrhunderten, mitten in der Zeit der Seuche, die einzigen gewährten Bittgesuche Propaganda-Angelegenheiten waren. In moderner Zeit war die Manipulation von Petitionen Onkel Alans bevorzugte Methode gewesen, populär zu bleiben und rivalisierende Fraktionen zu untergraben.
Es war eine schlaue Taktik, solange man Alans Fehler vermied, Mörder als Bittsteller zu sich zu lassen. In den vierundzwanzig Jahren seit ihrer Ankunft beim EinAus-Stern hatte Tomas Nau etwa einem Dutzend Petitionen stattgegeben. Dies war die erste, die behauptete, keinen Aufschub zu dulden.
Nau schaute über den Tisch auf die fünf Bittsteller. Berichtigung: Repräsentanten der Bittsteller. Sie behaupteten, ihnen hätten sich hundert Unterstützer angeschlossen, und das binnen acht Kilosekunden. Nau lächelte, bedeutete ihnen mit einer Handbewegung, Platz zu nehmen. »Pilotenverwalter Xin. Sie sind, glaube ich, der Ranghöchste. Bitte erklären Sie Ihre Petition.«
»Ja, Hülsenmeister.« Xin warf seiner Freundin, Rita Liao, einen Blick zu. Beide waren Aufsteiger von der Heimatwelt, aus Familien, die seit mehr als dreihundert Jahren Fokussierte und Gefolgsleute lieferten. Solche waren das Rückgrat der Aufsteigerkultur, und es hätte leicht sein müssen, mit ihnen umzugehen. Hier draußen, zwanzig Lichtjahre von der Zivilisation entfernt, war leider nichts einfach. Xin fand noch eine Sekunde lang keine Worte. Er warf einen nervösen, verstohlenen Blick auf Kal Omo. Omo erwiderte den Blick sehr kalt, und Nau wünschte plötzlich, er hätte sich die Zeit genommen, sich vom Hülsensergeanten informieren zu lassen. Da Brughel gegenwärtig Freiwache hatte, würde er keinem anderen die Schuld geben können, wenn er die Petition ablehnen musste.
»Wie Sie wissen, Hülsenmeister, arbeiten viele von uns an der Analyse der Ereignisse auf dem Planeten. Noch viel mehr interessieren sich allgemein für die Spinnen, die wir beobachten…«
Nau lächelte ihn sanft an. »Ich weiß. Ihr hängt bei Benny herum und hört euch die Übersetzungen an.«
»Ja, Herr Hülsenmeister. Äh… wir mögen ›Die Kinderstunde‹ sehr und manche von den übersetzten Geschichten. Sie bringen uns bei unseren eigenen Analysen weiter. Und…« Sein Blick ging, weit weg. »Ich weiß nicht. Die Spinnen haben dort unten eine ganze Welt, auch wenn sie keine Menschen sind. Im Vergleich zu uns wirken sie manchmal viel…« Wirklicher — Nau war sich sicher, dass Xin das hatte sagen wollen. »Ich meine, wir haben Zuneigung zu einigen von den Spinnenkindern gewonnen.«
Wie geplant. Die Live-Übersetzungen waren jetzt stark gepuffert. Sie hatten nie herausgefunden, was genau den Ausbruch der Geistfäule verursacht hatte — oder ob er überhaupt mit der Vorstellung zusammenhing. Anne war der Ansicht, das gegenwärtige Risiko sei nicht höher als bei ihren anderen Operationen. Nau langte nach rechts, drückte sanft Qiwis Hand. Sie lächelte zurück. Die Spinnenkinder waren wichtig. Das war etwas, das er ohne Qiwi Lisolet vielleicht nie verstanden hätte. Qiwi war zu so vielem gut. Sie zu beobachten, mit ihr zu reden, sie zu täuschen — es gab so viel dabei zu lernen. Echte Kinder wären eine unzumutbare Belastung für die Ressourcen bei L1 gewesen, aber etwas musste als Ersatz her. Qiwi und ihre Pläne und ihre Träume hatten ihm den Weg gezeigt. »Wir alle mögen die Kupplis, Pilotenverwalter. Ihre Petition hat etwas mit der Entführung zu tun?«