Er begegnete Hrunkner Unnerbei, der in die Gegenrichtung ging. Der alte Feldwebel hatte seine übliche straffe Haltung verloren. Er ging ungleichmäßig den Korridor entlang, und eine lange, milchige Schramme überzog die rechte Seite seines Kopfes.
Er winkte dem Feldwebel zu. »Alles in Ordnung mit Ihnen?« Doch Unnerbei ging an ihm vorüber und ignorierte Rachner, wie ein geköpfter Osprech vielleicht den Bauern ignoriert. Fast hätte er kehrtgemacht, um dem Kupp zu folgen, doch ihm fiel seine eigene dringende Angelegenheit ein, und er setzte den Weg zum vereinten Befehlsstand fort.
Der Raum war still wie eine Tiefe… oder ein Friedhof. Angestellte und Analysetechniker saßen reglos da. Als Rachner quer durchs Zimmer auf General Schmid zuging, begann das Rasseln der Arbeit von neuem und klang sonderbar selbstbewusst.
Schmid blätterte durch eine der Operationsmeldungen, ein klein wenig zu schnell, um viel davon aufnehmen zu können. Sie winkte ihn zu dem Gitter neben ihr. »Untersiedel sieht Hinweise auf Verwicklungen von Hiesigen, aber wir haben noch immer nichts Handfestes.« Ihr Ton war locker, sie leugnete oder ignorierte die Stille einen Augenblick zuvor. »Haben Sie etwas gefunden? Irgendeine Reaktion von unseren Sinnesgleichen ›Freunden‹?«
»Jede Menge Reaktionen, Chefin. Sogar das Zeug an der Oberfläche ist merkwürdig. Etwa eine Stunde, nachdem die Geschichte von der Entführung durchkam, drehten die Sinnesgleichen ihre Propaganda hoch — vor allem das Zeug, das an die ärmeren Nationalstaaten adressiert ist. Es ist die übliche ›Mord nach dem Dunkel‹-Panikmache, aber intensiver als üblich. Sie sagen, die Entführung sei die Verzweiflungstat anständiger Leute, denen bewusst ist, dass in Einklang traditionsfremde Elemente die Macht übernommen haben…«
Alle schwiegen. Viktoria Schmid sagte ein wenig scharf: »Ja, ich weiß, was sie sagen. Ich hatte erwartet, dass sie so auf die Entführungen reagieren würden.«
Vielleicht hätte er mit der großen Neuigkeit beginnen sollen. »Ja, Frau General, obwohl sie ein bisschen zu schnell reagiert haben. Unsere üblichen Quellen hatten davon im Voraus nichts gehört, aber jetzt — nun ja, es sieht so aus, als sei die Entführung nur ein Symptom davon, dass die Fraktion der Äußersten Maßnahmen die entscheidende Kontrolle innerhalb der Sinnesgleichen erlangt hat. Es sind nämlich gestern mindestens fünf von den Tiefsten hingerichtet worden, ›Gemäßigte‹ wie Klingtram und Sangst und auch — leider — Unfähige wie Drubi. Die Übrigen sind schlau und noch viel risikobereiter als zuvor…«
Schmid lehnte sich verblüfft zurück. »Ich… verstehe.«
»Wir wissen es seit höchstens einer halben Stunde, Frau General. Ich habe alle Feldanalytiker drangesetzt. Wir sehen keine militärischen Entwicklungen im Zusammenhang damit.«
Zum ersten Mal schien sie ihm volle Aufmerksamkeit zu widmen. »Das ist logisch. Wir sind Jahre von dem Punkt entfernt, wo sie von einem Krieg Nutzen hätten.«
»Richtig, Chefin. Kein Krieg, nicht jetzt. Die große Strategie der Sinnesgleichen muss immer noch darauf abzielen, die entwickelte Welt vor dem Dunkel so weit wie möglich zu zermürben und dann gegen alle zu kämpfen, die noch wach sind… Frau General, wir haben auch weniger sichere Informationen.« Gerüchte, nur dass einer seiner am besten getarnten Agenten gestorben war, um sie durchgeben zu können. »Es sieht so aus, dass Pedure jetzt bei den Sinnesgleichen die Chefin der Auslandsoperationen ist. Sie erinnern sich an Pedure. Wir hielten sie für die Vertreterin einer unteren Einsatzebene. Anscheinend ist sie klüger und hat mehr Blut an den Händen, als wir ahnten. Sie ist wahrscheinlich für diesen Coup verantwortlich. Vielleicht ist sie die Erste unter den Tiefsten. Jedenfalls ist sie überzeugt, dass Sie und insbesondere Scherkaner Unterberg der Schlüssel für den strategischen Erfolg des Einklangs sind. Sie umzubringen, wäre schwierig, und Ihren Gatten haben Sie fast ebenso stark geschützt. Ihre Kinder zu entführen, eröffnet eine…«
Die Hände der Generalin trommelten ein Stakkato auf den Kartentisch. »Reden Sie weiter, Major.«
Tun wir so, als sprächen wir über jemandes anders Kupplis. »Chefin, Scherkaner Unterberg hat oft genug im Rundfunk von seinen Gefühlen gesprochen, wie teuer ihm jedes Kind ist. Was ich jetzt erfahren habe« — von dem Agenten, der seine Tarnung aufgegeben hatte, um die Nachricht durchzugeben —, »ist, dass Pedure fast keine Nachteile bei einer Entführung Ihrer Kinder sieht, und alle möglichen Vorteile. Bestenfalls hoffte sie, alle Ihre Kinder aus dem Einklang herauszuholen und dann im Stillen mit Ihnen und Ihrem Gatten zu spielen — vielleicht jahrelang. Sie kalkuliert, dass Sie Ihre gegenwärtige Arbeit nicht länger tun können, wenn Sie diesen zusätzlichen Konflikt am Bein haben.«
Schmid begann: »Wenn sie eins nach dem anderen umgebracht würden, uns Stücke von ihnen zugeschickt würden…« Ihr Stimme erstarb. »Sie haben Recht, was Pedure angeht. Die versteht, wie das mit Scherkaner und mir gehen würde. Gut, ich möchte, dass Sie und Belga…«
Eins von den Tischtelefonen begann zu rattern, eine fest installierte Direktverbindung. Viktoria Schmid ließ ein Paar lange Arme über den Tisch schnellen und griff nach dem Hörer. »Schmid.«
Einen Augenblick lang hörte sie zu, dann pfiff sie leise. »Was haben sie? Aber… Gut, Scherkaner, ich glaube dir. Ja, es war richtig, dass Jaybert es an Untersiedel weitergeleitet hat.«
Sie legte auf und sagte zu Thrakt: »Scherkaner hat den Schlüssel gefunden. Er hat die letzte Nacht abgehörten Funksprüche entschlüsselt. Es sieht so als, als würden die Kupplis in der Kaufnadel festgehalten, in der Stadt.«
Jetzt begann das Telefon bei Thrakt zu klingeln. Er stach eine Handspitze in die Mithörbuchse und sagte: »Hier Thrakt.«
Belga Untersiedels Stimme klang schwach und weit vom Mikrofon entfernt. »Ach so? Na schön, bringt sie zum Schweigen!« Dann lauter: »Hören Sie, Thrakt? Ich habe hier unten alle Hände voll zu tun. Jetzt kriege ich einen Anruf von Ihren Tech-Freaks, die Opfer würden auf der oberen Etage der Kaufnadel festgehalten. Meint ihr Kupps das ernst?«
Thrakt: »Das sind nicht meine Techs. Es ist eine höchst wichtige Information, Oberst, woher sie auch stammt.«
»Verdammt, ich hatte schon eine echte Spur. Die Stadtpolizei hat eine Seidenfahne entdeckt, die sich am Turm der Bank von Weißenberg festgehakt hat.« Das war etwa eine halbe Meile von der Kaufnadel entfernt. »Es war der Jackenstoff, den uns Niederer beschrieben hat.«
Schmid beugte sich nahe ans Mikrofon heran und sagte: »Belga, war da irgendetwas dran befestigt? Eine Nachricht?«
Es folgte ein Moment des Zögerns, und Thrakt konnte sich vorstellen, wie Belga Untersiedel ihr Temperament zügelte. Belga hatte keine Bedenken, sich bei ihren Kollegen über all die ›blöde Technik‹ zu beklagen, doch jetzt war Schmid an der Strippe.
»Nein, Chefin. Es war ziemlich zerhäckselt. Die Techs könnten mit der Kaufnadel Recht haben, aber dort ist viel Betrieb. Ich werde eine Gruppe in die unteren Etagen schicken, die so tun, als wären sie Kunden. Aber…«
»Gut. Keinen Alarm: erst herankommen.«
»Chefin, ich glaube, der Turm, wo sie die Fahne gefunden haben, kommt eher in Frage. Er steht größtenteils leer und…«
»Schön. Kümmert euch um beide.«
»Ja, Frau General. Das Problem ist die Stadtpolizei. Die sind schon von selbst losgefahren, mit Sirenen und allen Drum und Dran.«
Letzte Nacht hatte Viktoria Schmid Thrakt einen Vortrag über die Macht der örtlichen Polizei gehalten. Jetzt eben sagte sie: »Ach so? Na schön, bringt sie zum Schweigen! Ich übernehme die Verantwortung.«