Sie winkte Thrakt zu. »Wir fahren in die Stadt.«
Einunddreissig
Shynkrette ging an ihrem ›Befehlsstand‹ auf und ab. Konnte sie nun von Glück reden? Diese Mission war auf hundert Tage angelegt gewesen, langsames Anschleichen und plötzlicher Sprung. Stattdessen hatten sie ihre Ziele keine zehn Tage nach der Infiltration einkassiert. Die ganze Operation war eine unglaubliche Kombination günstiger Zufälle und vermasselter Aktionen. Was blieb also? Befördert wurde man, wenn man aus Situationen in der wirklichen Welt Erfolge machte, und Shynkrette hatte Schlimmeres überstanden. Dass Barker und Fremm zerquetscht worden waren, war Pech und Unaufmerksamkeit gewesen. Der vielleicht schlimmste Fehler war es gewesen, die Zeugen zurückzulassen — zumindest der schlimmste Fehler, der ihr selbst angekreidet werden konnte. Andererseits hatten sie sechs Kinder, mindestens vier davon waren ihre Ziele. Die Flucht aus dem Museum war glatt gegangen, aber das Umsteigen im Flugplatz war schiefgegangen. Die hiesigen Sicherheitskräfte von Einklang waren einfach eine Spur zu schnell — vielleicht wiederum wegen der überlebenden Zeugen.
Dieser Bürobereich umgab die Kaufnadel in Höhe des fünfundzwanzigsten Stockwerks. Das verschaffte ihr einen exzellenten Blick über die Aktivitäten in der Stadt, ausgenommen direkt unten. In gewissem Sinne saßen sie hier vollständig in der Falle — wer hatte sich je verborgen, indem er sich hoch in den Himmel klemmte? Andererseits… Shynkrette blieb hinter ihrem Gruppensergeanten stehen. »Was sagt Trivelle, Denni?«
Der Sergeant nahm den Hörer vom Kopf. »Im Foyer im Erdgeschoss ist ungefähr der durchschnittliche Betrieb. Er hat ein paar geschäftliche Besucher. Ein altes Huhn und ein paar Kupps von der vorigen Generation. Sie wollen Bürofläche mieten.«
»In Ordnung. Sie können sich die Suiten im dritten Stock ansehen. Wenn sie irgendetwas anderes sehen wollen, können sie morgen wiederkommen.« Morgen, so die Tiefe wollte, würden Shynkrette und ihre Gruppe längst weg sein. Sie wären schon am vergangenen Abend verschwunden, hätte es nicht das Unwetter gegeben. Die Spezialeinsatztruppen der Sinnesgleichen konnten Dinge mit Hubschraubern anstellen, die sich das Einklang-Militär nicht träumen ließ… Wenn Glück und Tüchtigkeit noch ein, zwei Inge anhielten, würde die Gruppe mit ihrer Beute wieder daheim sein. In der Lehre der Sinnesgleichen hatten Morde und Enthauptungsschläge immer eine große Rolle gespielt. Mit diesem Einsatz schrieb die Geehrte Pedure ein neues und experimentelles Kapitel. Tiefe, was würde Pedure mit diesen sechs Kindern anfangen. Shynkrettes Geist schreckte vor dem Gedanken zurück. Sie war seit dem Großen Krieg immer im inneren Kreis von Pedure gewesen und war entsprechend aufgestiegen. Doch sie machte lieber für die Geehrte die Außenarbeiten, als dass sie mit ihr in den Folterkammern der Sinnesgleichen war. Die Dinge konnten so leicht… umgedreht werden… in diesen Kammern. Und der Tod konnte dort so langsam kommen…
Shynkrette ging von Viertel zu Viertel, durchmusterte die Straßen mit einem Spiegelvergrößerer… Verdammt, ein Zug Polizeifahrzeuge mit blinkenden Rundumleuchten. Sie erkannte die spezielle Ausrüstung dieser LKWs. Das war die Gruppe ›Schwere Waffen‹ der Polizei. Ihr großer Erfolg bestand darin, dass sie Verbrechern solche Angst einjagten, dass die sich ergaben. Die Blinkleuchten — und die Sirenen, die sie in einer Minute hören würde — gehörten zum beabsichtigten Eindruck. In diesem Fall hatte die Polizei einen kapitalen Fehler gemacht. Shynkrette lief bereits den Ring von Büros entlang zurück und zog im Laufen ihre kleine Schrotflinte von der Schulter.
»Gruppensergeant! Wir gehen nach oben.«
Denni hob überrascht den Kopf. »Trivelle sagt, er hört Sirenen, aber sie scheinen nicht hierher zu kommen.«
Ein Zufall? Hatte die Polizei vielleicht noch jemanden, vor dem sie mit ihren Kanonen herumfuchteln wollte? Shynkrette blieb einen Moment lang unschlüssig. Denni hob eine Hand, fuhr fort: »Aber er sagt, er glaubt, drei von den Alten haben die Verkaufsführung verlassen, sind vielleicht auf die Toilette gegangen.«
Das war’s dann mit der Unschlüssigkeit; Shynkrette bedeutete dem Sergeanten mit einer Geste, aufzustehen. »Sag Trivelle, er soll sich dünn machen«, wenn er kann. »Wir sind jetzt bei Alt Fünf.« Es gab immer einen Alternativplan, das war der finstere Scherz bei Sondereinsätzen. Sie hatten eine Warnung erhalten. Sehr wahrscheinlich konnten sie das Gebäude verlassen, im Meer der Zivilisten untertauchen. Korporal Trivelle hatte schlechtere Chancen, aber er wusste so wenig, dass es keine Rolle spielen würde. Die Mission würde nicht in Peinlichkeit enden. Wenn sie sich um ein letztes Stück Arbeit kümmerten, konnte sie vielleicht sogar als Teilerfolg gelten. Während sie die Zentraltreppe hinaufjagten, zog Denni seine eigene Schrotflinte und sein Kampfmesser. Erfolg bei Alt 5 bedeutete, einen kleinen Umweg zu machen, lange genug, um die Kinder zu töten. Lange genug, damit es richtig übel aussah. Pedure glaubte anscheinend, das würde jemanden auf der Einklang-Seite den Blick vernebeln. Für Shynkrette klang das verrückt, doch sie kannte nicht alle Fakten. Egal. Gegen Ende des Krieges hatte sie geholfen, eine schlafende Tiefe zu massakrieren. Nichts konnte hässlicher als das sein, aber die gestohlenen Schätze hatten das Wiedererstehen der Sinnesgleichen finanziert.
Den größten Teil des Morgens über hatte Brent flach auf dem Metallboden gelegen. Er sah so entmutigt aus, wie sich Viki und Gokna fühlten. Jirlib wenigstens hatte die Hände voll zu tun, indem er versuchte, die beiden Babies zu trösten. Die Kleinen waren jetzt total und lauthals unglücklich und wollten nichts mit den Schwestern zu tun haben. Das letzte Mal hatten sie alle am vorigen Nachmittag etwas zu essen erhalten.
Es blieben nicht einmal mehr viele Pläne zu schmieden. Im morgendlichen Zwielicht war es klar gewesen, dass ihre Rettungsflagge fort war. Ein zweiter Versuch riss sich in weniger als dreißig Minuten los. Danach hatten Gokna und Viki drei Stunden damit zugebracht, die Spielschnur in komplizierten Mustern durch die Rohrhalterungen über dem Eingang zu flechten. Brent hatte sich dabei wirklich nützlich gemacht — er war so gut bei Knoten und Mustern. Wenn jemand Feindliches durch die Tür kam, würde er einen Schlund voll unangenehme Dinge kriegen. Doch wenn ihre Besucher bewaffnet wären, wie könnte das ausreichen? An diesem Punkt hatte sich Brent von ihrer Diskussion zurückgezogen und sich platt auf den kalten Boden gelegt.
Über ihnen kroch ein schmales Rechteck von Sonnenlicht Stück für Stück über die hohen Wände ihres Gefängnisses. Es musste fast Mittag sein. »Ich höre Sirenen«, sagte Brent unvermittelt, nachdem er eine Stunde lang schweigend dagesessen hatte. »Legt euch dicht hin und hört.«
Gokna und Viki taten es. Jirlib beruhigte die Babies, soweit es ging.
»Ja, ich höre sie.«
»Das sind Pofeei-Sirenen, Viki. Hörst du das Bum-bum?«
Gokna sprang auf, rannte schon zur Tür.
Viki blieb einen Augenblick länger am Boden. »Sei still, Gokna!«
Und sogar die Babies waren still. Es gab andere Geräusche: das schwere Rumpeln von Ventilatoren irgendwo weiter unten im Gebäude, der Straßenlärm, den sie früher gehört hatten… aber jetzt das Stakkato vieler Füße, die Treppen hinaufrannten.
»Das ist nahe«, sagte Brent.
»Sie… sie kommen hierher.«
»Ja.« Brent machte eine Pause in seiner üblichen langweiligen Art. »Und ich höre andere kommen, leiser oder weiter weg.«
Es spielte keine Rolle. Viki lief zur Tür, kletterte hinter Gokna nach oben. Was sie planten, war ziemlich erbärmlich, doch am besten und am schlimmsten daran war, dass ihnen keine andere Wahl blieb. Vorher hatte Jirlib eingewandt, er sei größer, dass er sich von oben herabschwingen sollte. Ja, aber er war nur ein Ziel, und jemand musste die Babies aus der Schusslinie halten. Also standen nun Gokna und Viki an der Wand, anderthalb Meter übet der Tür, an Brents schlaues Seilgewebe geklammert.