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Brent stand auf, rannte zur rechten Seite der Tür. Jirlib hielt sich ein gutes Stück seitwärts entfernt. Er hielt die Kinder eng in den Armen und versuchte nicht mehr, sie zum Schweigen zu bringen. Doch jetzt, auf einmal, waren sie still. Vielleicht verstanden sie, was vorging. Vielleicht war es etwas Instinktives.

Durch die Wand hindurch spürte Viki jetzt die rennenden Schritte. Zwei Leute. Einer sagte leise etwas zum anderen. Sie verstand die Worte nicht, erkannte aber die Anführerin der Entführer. Ein Schlüssel klapperte im Schloss. Auf dem Boden zu ihrer Linken setzte Jirlib die Babies sacht hinter sich ab. Sie blieben still, völlig reglos — und Jirlib wandte sich wieder der Tür zu, sprungbereit. Viki und Gokna pressten sich enger gegen die Wand. Sie hatten so viel Spannkraft aus dem Seil geholt, wie sie nur wagten. Sie wechselten einen letzten Blick. Sie hatten die anderen in diese Bredouille gebracht. Sie hatten das Leben eines unschuldigen Unbeteiligten aufs Spiel gesetzt, um freizukommen. Jetzt war die Reihe an ihnen.

Die Tür glitt auf, Metall strich über Metall. Brent spannte sich zum Sprung. »Bitte tut mir nichts«, sagte er, die Stimme so mürrisch monoton wie immer. Brent hätte nicht schauspielern können, und wenn es seine Seele gegolten hätte, doch auf sonderbare Art klang dieser Tonfall nach jemandem, der vor Angst keines Gedankens mehr fähig war.

»Niemand will euch etwas tun. Wir wollen euch an einen besseren Ort bringen und euch etwas zu essen besorgen. Los, kommt raus!« Die Anführerin klang so vernünftig wie immer. »Kommt schon!«, ein bisschen schärfer. Glaubte sie, sie könnte sie alle in den Sack stecken, ohne sich auch nur die Jacke zu zerknittern? Ein, zwei Sekunden war es still… Viki hörte einen leichten Seufzer der Irritation. Plötzlich kam alles in Bewegung.

Gokna und Viki sprangen so heftig herab, wie sie nur konnten. Sie waren nur anderthalb Meter hoch. Ohne die Schnur hätten sie sich die Köpfe am Boden zerschmettert. Stattdessen schnellte die elastische Schnur sie kopfunter durch die offene Tür.

Schüsse peitschten an ihr vorüber, auf Brents Stimme zu.

Viki erhaschte einen Blick auf Köpfe und Arme und eine Art Gewehr. Sie prallte gegen die Anführerin in hinteren Teil ihres Rückens, schmetterte sie platt zu Boden. Das Gewehr rutschte weg. Doch der andere Kupp stand einen Meter weiter hinten. Gokna traf ihn in die harten Teile der Schultern, versuchte sich festzukrallen. Doch der Gegner schüttelte sie ab. Ein einziger Feuerstoß aus seinem Gewehr zerriss Goknas Mitte. Chitinsplitter und Blut spritzten auf die Wand hinter ihr.

Und dann war Brent über ihm.

Die unter Viki bäumte sich auf und schlug Jirlib gegen den Türbalken. Danach war alles sehr dunkel und fern. Irgendwo hörte sie noch mehr Schüsse, weitere Stimmen.

Zweiunddreissig

Viki war nicht schwer verletzt, eine geringe I Menge innerer Blutungen, die die Ärzte leicht unter Kontrolle halten konnten. Jirlib hatte eine Menge Dellen und ein paar verdrehte Arme abbekommen. Den armen Brent hatte es schwerer erwischt.

Als dieser fremde Major Thrakt mit seinen Fragen fertig war, besuchten Viki und Jirlib Brent in der Krankenstation des Hauses. Papa war schon da, saß neben dem Bett. Sie waren fast seit drei Stunden frei; Papa sah immer noch wie betäubt aus.

Brent lag in tiefen Polstern, ein Wasserröhrchen in Reichweite seiner Esshände. Er hob den Kopf, als sie eintraten, und winkte ein schwaches Lächeln. »Mir geht’s gut.« Nur zwei gesplitterte Beine und ein paar Schroteinschüsse.

Jirlib klopfte ihm sacht auf die Schultern.

»Wo ist Mutter?«, fragte Viki.

Papa machte eine ungewisse Kopfbewegung zur Seite. »Sie ist im Haus. Sie hat versprochen, dass sie euch heute Abend besucht. Es ist nur eben so viel passiert. Ihr wisst, dass das nicht bloß ein paar Verrückte waren, die das getan haben, ja?«

Viki nickte. Es gab mehr Sicherheitstypen im Haus als je zuvor und sogar ein paar uniformierte Soldaten draußen. Major Thrakts Leute hatten einen Haufen Fragen nach den Entführern gehabt, ihren Gewohnheiten, wie sie sich zueinander verhielten, ihre Wortwahl. Sie versuchten sogar, Viki zu hypnotisieren, um das letzte Quäntchen Erinnerung herauszupressen. Sie hätte ihnen die Mühe ersparen können. Viki und Gokna hatten jahrelang versucht, einander zu hypnotisieren — ohne jeden Erfolg.

Kein einziger Entführer hatte den Kampf überlebt; Thrakt ging davon aus, dass mindestens eine sich umgebracht hatte, um der Gefangenschaft zu entgehen.

»Die Generalin muss herausfinden, wer hinter der Sache steht und was sich dadurch an der Art verändert, wie der Einklang seine Feinde betrachtet.«

»Es waren die Sinnesgleichen«, sagte Viki tonlos. Sie hatte in Wahrheit keine Beweise außer dem militärischen Verhalten der Entführer. Doch Viki las die Zeitungen wie sonst einer, und Papa redete genug über die Risiken bei der Eroberung des Dunkels.

Unterberg zuckte bei Vikis Behauptung die Achseln. »Wahrscheinlich. Die Hauptsache für die Familie ist, dass sich die Dinge verändert haben.«

»Ja.« Vikis Stimme brach. »Papa! Natürlich haben sich die Dinge verändert; wie könnten sie jemals wieder sein wie früher?«

Jirlib senkte den Kopf, bis er schlapp auf Brents Gitter lag.

Unterberg schien in sich zusammenzusinken. »Kinder, es tut mir so Leid. Ich wollte euch nicht wehtun. Ich wollte nicht, dass…«

»Papa, es waren Gokna und ich, die sich aus dem Haus geschlichen haben… Sei still, Jirlib. Ich weiß, dass du der älteste bist, aber wir konnten dich immer um den Finger wickeln.« Das stimmte. Manchmal benutzten die Schwestern das Ego ihres Bruders, manchmal seine intellektuellen Interessen — wie bei der Verwerf-Ausstellung. Manchmal verließen sie sich einfach auf seine Zuneigung zu den kleinen Schwestern. Und Brent hatte seine eigenen Schwächen. »Es waren Gokna und ich, die das möglich gemacht haben. Wenn Brent nicht im Museum angegriffen hätte, wären wir jetzt alle tot.«

Unterberg machte eine verneinende Geste. »Oh, Klein Viktoria, ohne dich und Gokna wären die Retter eine Minute zu spät gekommen. Ihr wärt alle tot. Gokna…«

»Aber jetzt ist Gokna tot!« Plötzlich war ihr Panzer von Fühllosigkeit zerbrochen, und sie wurde fortgerissen. Viki kreischte wortlos und lief aus dem Zimmer. Sie rannte durch den Korridor zur zentralen Treppe, machte einen Bogen um die Uniformen und die alltäglichen Bewohner des Hauses. Ein paar Arme streckten sich nach ihr aus, doch jemand rief von hinten etwas, und man ließ sie vorbei.

Immer höher lief Viki, vorbei an den Laboratorien und den Unterrichtsräumen, vorbei an dem Atrium, wo sie immer spielten, wo sie zum ersten Mal Hrunkner Unnerbei getroffen hatte.

Ganz oben befand sich der kleine Giebelboden, den zu erhalten sie und Gokna verlangt und gebeten und taktiert hatten. Manche lieben das Tiefste und manche das Höchste. Papa hatte immer nach dem Höchsten gestrebt, und seine beiden Töchter hatten es geliebt, von ihrem hochgelegenen Sitzgitter herabzuschauen. Es war nicht der höchste Ort in Weißenberg, aber hoch genug.

Viki rannte hinein, schlug die Tür zu. Einen Augenblick lang war sie ein wenig benommen vom raschen Aufstieg. Und dann… Das war das Kankerhaus, das im Laufe der letzten fünf Jahre erhebliche Ausmaße angenommen hatte. Als die Winter kälter wurden, hatte es seinen ursprüngliche Charme verloren; man konnte nicht so tun, als seien die kleinen Wesen Leute, als ihnen Flügel zu sprießen begannen. Dutzende von ihnen flirrten bei den Futterstellen ein und aus. Das Ultra und Blau ihrer Flügel glich fast einem Tapetenmuster an den Seiten des Hauses. Sie und Gokna hatten sich endlos gestritten, wer über dieses Haus bestimmte.