»Bleib einfach ruhig stehen und sei still. Ciret, binden Sie Vinh los. Wir nehmen ihn auch mit.«
Ali stand ruhig, die Füße fest am Haftboden. Doch er blieb nicht still. Er starrte mit einem typischen abwesenden Blick an Nau vorbei und fuhr einfach fort, sich zu beschweren. »Sie ruinieren alles, sehen Sie das denn nicht?«
Unvermittelt erfüllte Ritsers Stimme den Raum. »Herr Hülsenmeister, die Lage hier ist unter Kontrolle. Die Blitzköpfe der Hand sind noch in Betrieb. Wir werden die Dienste für komplexere Funktionen eigentlich nicht brauchen, bis die Bomben gefallen sind. Phuong sagt, auf kurze Sicht sind wir vielleicht ohne L1 besser dran. Kurz bevor sie ausgefallen sind, wurden ein paar von Reynolts Einheiten sehr unkontrolliert. Hier ist der Angriffsplan. Südende wird in siebenhundert Sekunden verbrannt. Kurz danach wird die Hand die Antiraketen-Stellungen des Einklangs überfliegen. Die erledigen wir selber…«
Brughels Antwort wurde zum Bericht, das übliche Schicksal von Gesprächen über große Entfernungen. Lin war still geworden. Nau spürte eine Kühle im Nacken, das Sonnenlicht wurde schwächer. Eine Wolke? Er wandte sich um — und sah, dass diesmal der in die Ferne gerichtete Blick des Blitzkopfes seinen Sinn hatte. Tung machte ein paar Schritte um Lin herum, um zu den Fenstern auf der Seeseite hinauszublicken. »Eiter«, sagte der Wachmann leise.
»Ritser! Wir haben neue Probleme. Ich melde mich wieder.«
Die Stimme von der Unsichtbare Hand quasselte weiter, doch jetzt hörte niemand mehr zu.
Wie eine Undine aus dem balacreanischen Mythos hatten sich die Wasser von Nordpfote langsam gesammelt, erhoben sich und breiteten sich über Ali Lins sorgfältig entworfenen Strand hinweg aus. ›Sonnenlicht‹ drang unstet durch Millionen Tonnen Wasser, die sich über ihnen blähten. Selbst ohne Steuerung hätte der Parksee ungefähr an Ort und Stelle bleiben müssen. Doch der Feind hatte die Servos am Seegrunde rhythmisch weiterlaufen lassen — und die See hatte sich still zur Katastrophe hochgeschaukelt.
Nau sprang zur Tunnelluke hin. Er nahm festen Halt und zog an dem massiven Sicherheitsdeckel. Die Wasserwand berührte die Hütte. Das Gebäude ächzte, und die Fenster zersprangen vor einem Berg Wasser, der sich unerbittlich mit gut einem Meter pro Sekunde vorwärtsbewegte.
Und die Wasserwand wurde zu tausend Armen, die durch die brechende Wand hereintasteten, kalt um seinen Körper wimmelten, ihn von der Luke wegzerrten. Schreie und Rufe, die rasch untergingen, und einen Augenblick lang war Nau vollständig im Wasser. Das einzige Geräusch war das rumpelnde Einstürzen seiner Hütte, während sie zu Trümmern zermahlen wurde. Er erhaschte einen letzten Blick auf seinen Arbeitsplatz, seinen Schreibtisch mit dem Furnier aus Knotenholz, den marmornen Kamin. Dann brach der langsame Tsunami durch die gegenüberliegende Wand, und Nau wurde im Wirbel immer höher getragen.
Immer noch unter Wasser, mit brennenden Lungen. Das Wasser war lähmend kalt. Nau drehte sich, versuchte den Sinn der Farbflecken zu erfassen, die er sah. Am deutlichsten konnte er nach unten sehen. Er sah das Grün des Waldes hinter der Hütte. Nau schwamm abwärts, auf die Luft zu.
Er brach durch, schickte dabei Wassersträhnen der Hauptoberfläche voran und schnellte sich in den freien Raum. Ein, zwei Sekunden lang schwebte Nau allein und trieb gerade schnell genug dahin, um vor der fliegenden See zu bleiben. Die Luft war von einem Klang erfüllt, den sich Nau niemals vorgestellt hatte — ein öliges Rumpeln, der Klang von Millionen Tonnen Wasser, die sich drehten, ausbreiteten, fielen. Die Flutwelle war auf die Decke der Höhle getroffen, und jetzt kam die See herab, und er war unter ihr. Im Wald unten hatten die Schmetterlinge das eine Mal ihr Lied unterbrochen. Sie ballten sich in den größten Grotulmen zu dichten Schwärmen. Doch weit entfernt war etwas in der Luft. Die geflügelten Kätzchen! Sie schienen sich nicht im Mindesten zu fürchten — aber Qiwi hatte ja auch behauptet, sie seien eine alte Raumrasse. Er sah, wie eins in die Seite der Undine platschte. Für einen Moment war es weg, dann kam es heraus und tauchte wieder ein. Die verdammten Katzen waren womöglich agil genug, um zu überleben.
Er wandte sich wieder um und schaute durchs Wasser zurück ins Sonnenlicht des Parks. Es glitzerte golden auf Trümmern, auf menschlichen Gestalten, die gefangen waren wie Fliegen in Bernstein. Die anderen schwammen auf ihn zu, manche schwach, andere mit großer Energie. Marli tauchte in die Luft auf. Einen Augenblick später durchbrach Tung die Wasserwand, dann Ciret mit Ali Lin in den Armen. Tüchtig!
Es gab noch eine Gestalt, Ezr Vinh. Der Krämer kam halb aus dem Wasser, ungefähr zehn Meter von den anderen entfernt. Er war benommen und schnappte nach Luft, wirkte aber wacher als während des Verhörs. Er schaute hinab auf die Baumwipfel, auf die sie zufielen, und machte ein Geräusch, das vielleicht Lachen war. »Sie sind in der Falle, Hülsenmeister. Pham Nuwen hat Sie überlistet.«
»Pham wer?«
Der Krämer sah ihn aus zusammengekniffenen Augen an, schien zu begreifen, dass er Information preisgegeben hatte, die zu schützen er im Begriff gewesen war zu sterben. Nau winkte Marli zu. »Bring ihn her!«
Aber Marli hatte nichts, wovon er sich abstoßen konnte. Vinh platschte gegen das Wasser, zog sich wieder hinein — um zu ertrinken, aber außerhalb ihrer Reichweite.
Marli drehte sich herum, feuerte seine Drahtpistole auf den Wald ab und ließ sich vom Rückstoß dem fallenden Wasser entgegentreiben. Nau sah Ezr Vinhs Silhouette im Sonnenlicht, wie er schwach mit den Armen fuchtelte, jetzt aber mehrere Meter tief im Wasser.
Rings um sie erschienen die Baumwipfel. Marli blickte wild um sich. »Wir müssen hier weg, Herr Hülsenmeister!«
»Dann töte ihn einfach.« Nau langte bereits nach den Wipfeln. Über ihm feuerte Marli etliche kurze Feuerstöße ab. Der fliegende Draht war dafür vorgesehen, Fleisch zu zerreißen; im Wasser betrug seine Reichweite fast Null. Doch Marli hatte Glück. Ein Schleier von Rot breitete sich um den Körper des Krämers aus.
Und dann war keine Zeit mehr. Nau zog sich von Ast zu Ast, hechtete durch die Freiräume unter dem Laubdach. Die ganze Zeit ertönte ringsum das Geräusch brechenden Holzes, während das Wasser durch die Grotulmen und den Olianfirn strömte, ein Geräusch, das gleichzeitig an Feuer und Nässe gemahnte. Die Wasserwand zersplitterte in eine Million fraktaler Finger, die wirbelten, taumelten, sich vereinigten. Es berührte den Rand einer Anhäufung von Schmetterlingen, und für einen Augenblick erklang ein pfeifendes Lied, lauter, als es Nau jemals gehört hatte — und dann hatte das Wasser den Haufen verschlungen.
Marli schoss vor ihm her, drehte sich um. »Das Wasser ist zwischen uns und dem Haupteingang, Herr Hülsenmeister.«
In der Falle, genau wie es der Krämer gesagt hatte.
Die vier bewegten sich am Boden entlang, parallel zur Wand des Parks. Über ihnen sank das Wasserdach immer tiefer, schon ein gutes Stück an den Baumkronen vorbei und immer noch fallend. Das Sonnenlicht war ein Glühen aus allen Richtungen, durch Dutzende von Metern Wasser hindurch. Im See war ja nur eine bestimmte Menge Wasser gewesen. Es musste überall im Park riesige Lufttaschen geben — doch sie hatten weniger Glück gehabt. Ihr Raum war eine nicht besonders große Höhlung — auf vier Seiten von ihnen Wasser.
Ali Lin musste von Ast zu Ast gezerrt werden. Er schien von der Undine fasziniert zu sein und keinen Gedanken für die Gefahr zu haben.
Vielleicht… »Ali!«, sagte Nau scharf.
Ali Lin wandte sich ihm zu. Doch er runzelte nicht die Stirn wegen der Unterbrechung; er lächelte. »Mein Park, er ist ruiniert. Aber ich sehe jetzt etwas Besseres, etwas, das niemals jemand gemacht hat. Wir können einen echten Mikroschwerkraft-See machen, wo Blasen und Tröpfchen einander abwechseln und um die Vorherrschaft ringen. Es gibt Tiere und Pflanzen, die ich…«