Das Taxi beschleunigte mit seinen kleinen chemischen Triebwerken. Nau und seine Männer suchten eilig nach Handgriffen. Qiwi hatte die automatischen Begrenzungen übergangen. »Was ist passiert, Tomas? Haben wir eine Chance?«
»Ich denke schon. Wenn wir nach L1-A hineingelangen können.« Er erzählte die Geschichte des Verrats, fast die Wahrheit, ausgenommen Ali Lin.
Qiwi ließ das Taxi glatt in den Bremsanflug einschwenken. Doch ihre Stimme klang fast schluchzend. »Das ist wieder das Diem-Massaker, nicht wahr? Wenn wir sie diesmal nicht aufhalten, werden wir alle sterben. Und die Spinnen auch.«
Volltreffer. Wenn Qiwi nicht so frisch blankgeputzt worden wäre, wäre dies ein sehr gefährlicher Gedankengang gewesen. Noch ein paar Tage, und sie fände hundert kleine Unstimmigkeiten, die sie zusammensetzen könnte, sie würde das alles rasch durchschauen.
Doch jetzt, die nächsten paar Kilosekunden lang, kam ihm die Analogie zu Diem zupass. »Ja! Aber diesmal haben wir eine Chance, sie aufzuhalten, Qiwi.«
Das Taxi ging rasch auf Diamant Eins nieder. Die Sonne glich einem fahlen roten Mond, ihr Licht glitzerte hier und da auf den letzten Vorräten an gestohlenem Schnee. Hammerfest war unterm Horizont verschwunden. Höchstwahrscheinlich steckte Pham Nuwen dort im Obergeschoss fest. Der Kerl war ein Genie, aber er hatte nur einen halben Sieg errungen. Er hatte die Blitzkopf-Dienste abgeschaltet, doch er hatte die Arachna-Operation nicht verhindern können und keine Verbündeten erreicht.
Und in diesem Spiel war ein halber Sieg nichts wert. In ein paar hundert Sekunden werde ich über die Feuerkraft von L1-A verfügen. Die Strategie würde sich in garantierter Vernichtung kristallisieren, und Pham Nuwens moralische Schwäche würde Tomas Nau den vollen Sieg einbringen.
Ezr verlor nie das Bewusstsein, andernfalls wäre er nicht mehr erwacht. Doch eine Zeit lang war all seine Wahrnehmung auf ihn selbst konzentriert, auf die lähmende Kälte, den bohrenden Schmerz in seiner Schulter und den Arm abwärts.
Der Drang, Luft in seine Lungen zu saugen, wurde übermächtig. Irgendwo musste es Luft geben; der Park hatte so viel davon wie eh und je. Doch wo? Er wandte sich in die Richtung, wo das falsche Sonnenlicht am hellsten war. Ein Rest von Vernunft stellte fest, dass das Wasser aus dieser Richtung gekommen war. Also fiel es jetzt. Schwimm auf die Helligkeit zu. Er bewegte die Beine schwach, aber so kräftig, wie er nur konnte, und korrigierte mit dem unversehrten Arm die Richtung.
Wasser. Mehr Wasser. Ewig Wasser. Rötlich im Sonnenlicht.
Er brach durch die Oberfläche, hustend und sich erbrechend und endlich atmend. Die See erstreckte sich rings um ihn. Sie wogte und stieg ohne einen Horizont. Es war etwas wie eine Piraten-Geschichte von Canberra, die er als Kind gesehen hatte; er war ein Seemann, gefangen in einem endgültigen Mahlstrom. Er starrte höher und höher. Das Wasser krümmte sich um ihn und schloss sich über seinem Kopf. Seine Seelandschaft war eine Blase, vielleicht fünf Meter im Durchmesser.
Mit der Orientierung stellte sich etwas wie rationales Denken ein. Ezr warf sich herum, schaute nach unten und hinter sich. Kein Anzeichen von Verfolgern. Doch vielleicht spielte es keine Rolle. Durch das Wasser ringsum zogen sich Fäden seines eigenen Blutes, er schmeckte es. Die Kälte, die die Blutung verlangsamt und den Schmerz teilweise betäubt hatte, lähmte auch seine Beine und seinen unversehrten Arm.
Ezr starrte durchs Wasser und versuchte abzuschätzen, wie weit entfernt sich diese Luftblase von der äußeren Oberfläche befand. Das Wasser auf der Sonnenseite schien nicht tief zu sein, aber… Er schaute abwärts, dorthin, wo der Wald gewesen war. Durch das Flimmern und Fließen hindurch sah er die Ruinen der Bäume. Nirgends war dieses Wasser tiefer als ein Dutzend Meter. Ich bin aus der Hauptmasse heraus. Seine Blase war ihrerseits Teil eines Tropfens, der langsam über den Himmel von Nordpfote trieb.
Und zwar abwärts, infolge einer Kombination der Mikroschwerkraft und des Aufpralls des Sees an der Höhlendecke. Ezr schaute betäubt zu, wie der Boden näher kam. Er würde unweit von der Anlegestelle des Sees auftreffen.
Als es so weit war, war der Aufprall langsam wie im Traum, weniger als ein Meter pro Sekunde. Doch das Wasser spritzte rasch um ihn herum hoch. Er traf mit Beinen und Hintern auf und schnellte nach oben zurück, gemeinsam mit einem Durcheinander zitternder, rotierender Wasserklumpen. Ringsum war ein klackendes Geräusch, ein unbeseelter mechanischer Applaus. Die steinerne Verkleidung des Deichs war keinen Meter entfernt. Er streckte die Hand aus, hörte fast auf, sich zu drehen. Dann berührte seine verletzte Schulter die Verkleidung, und alles verschwand in einem Ausbruch von Qual.
Er war nur ein paar Sekunden bewusstlos. Als das Bewusstsein zurückkehrte, sah er, dass er sich ungefähr fünf Meter über dem Seeboden befand. In seiner Nähe waren die Steine der Verkleidung mit einem Streifen von Moos und Flecken bedeckt, die alte Wasserstandslinie. Und der klackende Applaus… Er schaute über den Seeboden hin. Er sah die Stabilisator-Servos, wie sie zu Hunderten dieselbe Sabotage fortsetzten, die die See in Bewegung gebracht hatte.
Ezr kletterte die grob behauenen Steine des Deiches hinan. Es waren nur ein paar Meter bis zur Krone, bis zur Hütte… bis zu der Stelle, wo die Hütte gestanden hatte. Die Fundamente waren noch zu erkennen. Die Stümpfe vom Wandrahmen standen noch. Aber eine Million Tonnen Wasser, auch wenn es sich langsam bewegte, hatte ausgereicht, um die Hütte wegzufegen. Hier und da stieg Schutt auf, mit den Trümmern weiter unten verhakt.
Ezr bewegte sich von Spitze zu Spitze, benutzte seine unversehrte Hand, um über die Ruinen zu klettern. Die See hatte sich zu einer tiefen Schicht gesenkt, die den Wald umfing und an den gegenüberliegenden Wänden der Höhle emporkroch. Sie schäumte und strömte noch immer. Zehn Meter große Wassertropfen zogen noch immer über den Himmel. Ein Großteil der See würde sich wohl schließlich wieder im Becken sammeln, doch Ali Lins Meisterwerk war zerstört.
Ihm wurde verschwommen und trübe vor den Augen; der Schmerz war nicht mehr so schlimm wie vorher. Irgendwo da draußen im überfluteten Wald saß Tomas Nau zusammen mit seinen fröhlichen Gesellen in der Falle. Ezr erinnerte sich an den Triumph, den er empfunden hatte, als er sie in den Bäumen unter Wasser versinken sah. Pham, wir haben gesiegt. Doch das war nicht der ursprüngliche Plan. In Wahrheit hatte Nau sie irgendwie durchschaut, sie fast beide umgebracht. Vielleicht saß Nau überhaupt nicht in der Falle. Wenn er einen Weg aus der Höhle fand, konnte er Pham verfolgen oder nach L1-A gelangen.
Doch die Furcht war weit weg und schwand. Bänder von klebrigem rotem Wasser umströmten ihn jetzt. Er drehte den Kopf, um einen Blick auf seinen Arm zu werfen. Marlis Drahtpistole hatte ihm den Ellenbogen zerschmettert, eine Arterie geöffnet. Die frühere Wunde an seiner Schulter und die Folter hatten eine Art zufällige Aderpresse erzeugt, aber ich verblute allmählich. Logischerweise war der Gedanke Grund, alarmiert zu sein, doch in Wahrheit wollte er weiter nichts, als den Boden loslassen und sich eine Weile auszuruhen. Und dann stirbst du, und vielleicht gewinnt Tomas Nau.
Ezr zwang sich, in Bewegung zu bleiben. Wenn er die Blutung zum Stillstand bringen könnte… aber er konnte nicht einmal seine Jacke ausziehen. Sein Denken trieb vom Unmöglichen weg. Grau schlich sich an den Enden in seinen Geist. Was kann ich tun in den Sekunden, die mir noch bleiben? Er arbeitete sich über die Trümmer voran, das Gesichtsfeld auf den Boden nur ein paar Zentimeter vor seinem Gesicht begrenzt. Wenn er Naus Arbeitszimmer finden könnte, sogar ein Sprechfunkgerät. Wenigstens könnte ich Phamwarnen. Es gab kein Funkgerät, nur Schutt überall. Das schöne Holz, das Fong gezüchtet hatte, war nur noch Feuerholz, die Spiralmaserung geborsten.