Schließlich: »Wir duplizieren alles, Papa. Wir…« Sie machte eine Pause, warf einen Blick auf ihre Techniker. »… wir kommen zurecht, ganz wie du sagst. Ich denke, wir schaffen es, aber um Gottes willen, nimm eine nähere Route! Zwanzig Sekunden sind einfach zu viel. Wir brauchen dich jetzt mehr denn je!« Und dann sprach sie zu ihren Technikern. »Rhapsa, nimm dir die aufs Korn, die wir nicht von oben stoppen können. Birbop, bring diese verdammte Übertragungsroute in Ordnung…«
Und auf der Lagekarte… waren die über Hochäquatorien verstreuten Raketenfelder zum Leben erwacht. Die Karte zeigte die bunten Spuren von Dutzenden, Hunderten von Antiraketen, die Langstrecken-Abfangraketen, die hoch aufstiegen, um den Gegner zu treffen. Noch mehr Lügen? Belga schaute hinüber zu Lichtberg und den anderen Eindringlingen, die plötzlich freudig aussahen, und fühlte, wie Hoffnung in ihrem Herzen hochstieg.
Bis zu den ersten Begegnungen war es noch eine halbe Minute. Belga hatte die Simulationen gesehen. Mindestens fünf Prozent der angreifenden Raketen würden durchkommen. Es würde hundertmal so viel Tote wie während des Großen Krieges geben, aber keine totale Vernichtung… Doch auf der Karte geschahen andere Dinge. Ein Stück hinter der vorderen Angriffswelle begannen hier und da die Kennungen für feindliche Objekte zu verschwinden.
Lichtberg zeigte auf den Bildschirm und wandte sich zum ersten Mal seit ihrem Coup an Untersiedel und die anderen. »Die Sinnesgleichen hatten Rückruffunktionen bei einigen ihrer Raketen. Die nutzen wir, wo immer es geht. Einige von den anderen können wir von oben angreifen.« Von oben? Wie durch einen unsichtbaren Radiergummi, der nach Norden über den Kontinent strich, verschwand ein Schwarm Raketenkennungen. Lichtberg wandte sich Kalthafen und den anderen zu und nahm Haltung an. »Herr General, Frau General. Ihre Leute sind vielleicht am besten, was die Lenkung der Antiraketen betrifft. Wenn wir uns koordinieren können…«
»Verdammt, ja!«, riefen Schachtweg und Kalthafen gleichzeitig. Die Techniker stürzten zurück an ihre Plätze. Es gingen wertvolle Augenblicke mit dem Wiederaufrufen von Ziellisten verloren, und dann punktete die Erste von den Antiraketen.
»Eindeutiger EM-Impuls!«, rief einer von den LV-Technikern. Irgendwie wirkte das realer als alles Übrige.
General Kalthafen machte eine Handbewegung zu Lichtberg hin, eine sonderbare Art Gegengruß. Lichtberg sagte ruhig: »Danke, Herr General. Das ist nicht ganz das, was die Chefin geplant hat, aber ich denke, wie kriegen es hin… Brent, versuche, ob du die Lagekarte ganz mit der Wahrheit in Übereinstimmung bringen kannst.«
… Hunderte von neuen Kennungen glitzerten auf dem Bildschirm. Doch es waren keine Raketen. Belga kannte die Zeichen gut genug, um Satelliten erkennen zu können, obwohl diese nach kaputter Grafikfunktion aussahen. Es fehlten Datenfelder, und es gab Felder, die sinnlose Zeichenketten enthielten. Vom Nordrand des Bildschirms her bewegte sich ein seltsames Rechteck. Neben ihm pulsierten winkelförmige Zeichen. General Schachtweg zischte. »Das kann nicht wahr sein. Ein Dutzend Größenwinkel. Dann wäre es ja dreihundert Meter lang.«
»Ja, Herr General«, sagte Leutnant Lichtberg. »Die üblichen Anzeigeprogramme kommen damit nicht ganz zurecht. Dieser Flugkörper ist fast sechshundert Meter lang.« Sie schien den Ausdruck nicht zu bemerken, der sich über Schachtweg legte. Sie betrachtete die Erscheinung noch eine Sekunde. »Und ich glaube, er hat gerade aufgehört, von Nutzen zu sein.«
Ritser Brughel schien mit sich zufrieden zu sein. »Wir haben es sogar ohne Reynolts Leute eitermäßig gut gemacht.« Der Vize-Hülsenmeister kam von seinem Kapitänssessel herüber und blieb neben seinem Pilotenverwalter schweben. »Vielleicht haben wir ein paar Bomben mehr gestartet, als exakt notwendig war, aber das hat Ihren Lapsus bei den Abwehrraketen wettgemacht, was?« Er schlug Xin vertraulich auf die Schulter. Jau kam plötzlich zu Bewusstsein, dass sein einziger, kraftloser Verrat entdeckt worden war.
»Jawohl, Herr Hülsenmeister«, war das Einzige, was ihm zu sagen einfiel. Vor ihnen glitzerte das Planetenrund mit einem Geflecht von Lichtern — die Städte, die sie Weißenberg, Valdemon, Königsberg nannten. Vielleicht waren die Spinnen nicht die Leute, die sich Rita vorstellte, vielleicht war das eine Täuschung der Übersetzung. Doch wie die Wahrheit auch aussehen mochte, jene Städte durchlebten die letzten Sekunden ihres Daseins.
»Herr Hülsenmeister.« Bil Phuongs Stimme kam über den allgemeinen Sprechkanal der Brücke. »Ich habe eine Bestätigung von Annes Leuten. Binnen Sekunden werden wir über volle Automatik verfügen.«
»Ha! Wurde auch Zeit.« Doch in Ritser Brughels Stimme klang Erleichterung mit.
Jau spürte eine dumpfe Vibration. Wieder. Wieder. Brughel riss den Kopf hoch und schaute fort auf eine virtuelle Anzeige. »Das klingt wie unsere Kampflaser, aber…«
Jaus Blick huschte über die Statusmeldungen. Die Waffenleiste war sauber. Die Kernleistung war hochgeschnellt, als wären Kondensatoren aufgeladen worden — doch jetzt war auch das normal. Und: »Meine Piloten melden keinerlei Feuer, Herr Hülsenmeister.«
Vibration. Vibration. Sie hatten die großen Städte überflogen, glitten nordwärts in die Arktis, über winzige Lichter, verstreut in der unermesslichen Dunkelheit, frosterstarrtes Land. Da war nichts, doch hinter ihnen… Vibration. Der Himmel wurde von drei fahlen Strahlenbündeln erhellt, die auseinanderstrebten, verblassten… der klassische Anblick von Kampflasern in der Hochatmosphäre.
»Phuong! Was, zum Teufel, ist da unten los!«
»Nichts, Herr Hülsenmeister! Ich meine…« Geräusche von Phuong, wie er sich zwischen seinen Blitzköpfen bewegte. »Äh… die Blitzer arbeiten gültige Ziellisten von L1 ab.«
»Also, sie stimmen überhaupt nicht mit meiner Zielliste überein. Kommen Sie aus der Knete, Mann!« Brughel unterbrach die Verbindung und wandte sich wieder seinem Pilotenverwalter zu. Das blasse Gesicht des Hülsenmeisters war rötlich von sich ansammelnder Wut. »Erschießt die blöden Blitzer und beschafft neue!« Er starrte Jau an. »Wo klemmt’s also bei Ihnen?«
»Ich… es ist vielleicht nichts, aber wir werden von unten her angestrahlt.«
»Hä-m.« Brughel schaute mit zusammengekniffenen Augen auf die Aufklärungselektronik. »Ja. Bodenradar. Aber das kommt ein paarmal bei jeder Umkreisung vor… oh.«
Xin nickte. »Dieser Kontakt hat fünfzehn Sekunden gedauert. Es ist, als ob sie uns verfolgen.«
»Das kann nicht sein. Die Datennetze der Spinnen gehören uns.« Brughel biss sich auf die Lippe. »Es sei denn, Phuong hat die Verbindung mit L1 völlig versaut.«
Die Radarmeldung wurde für einen Moment schwächer… und war wieder da, heller, gebündelt. »Das ist ein Zielsucher!«
Brughel zuckte zurück, als habe sich das Bild in eine zustoßende Schlange verwandelt. »Xin. Übernehmen Sie! Haupttriebwerk, wenn nötig! Bringen Sie uns hier raus!«
»Jawohl, Herr Hülsenmeister.« Im hohen Norden der Spinnen gab es nicht viele Raketenstellungen. Doch die waren mit Nuklearsprengköpfen bestückt. Selbst ein einziger Treffer konnte die Hand schwer beschädigen. Jau streckte die Hand aus, um seine Piloten zu aktivieren…
… und das Grollen der Hilfstriebwerke erfüllte die Brücke.
»Das war nicht ich, Herr Hülsenmeister!«
Brughel hatte ihn angeschaut, als das Geräusch gerade begann. Er nickte. »Nehmen Sie Verbindung mit Ihren Piloten auf. Übernehmen Sie ihre Führung!« Er schoss von seinem Platz neben Xin hoch und winkte seine Wachleute zur heckseitigen Luke hin. »Phuong!«
Jau hämmerte fieberhaft auf seine Steuertasten, rief wieder und wieder die Befehlscodes. Er sah fragmentarische Rückmeldungen, aber keine Antwort von seinen Piloten. Der Horizont hatte sich leicht geneigt. Die Hilfstriebwerke der Hand wurden auf voller Leistung gefahren, aber nicht von Jau. Langsam, langsam schien das Schiff in eine Reiseposition mit gesenktem Bug zurückzukehren. Noch immer keine Antwort von seinen Piloten, aber… Jau bemerkte die ansteigende Kurve vom Energiekern.