»Haupttriebwerk in Betrieb, Herr Hülsenmeister! Ich kann es nicht anhalten…«
Brughel und seine Wachleute griffen nach Halt. Der Infraschall vom Haupttriebwerk war unverwechselbar, vibrierte in Knochen und Zähnen. Langsam, langsam stieg die Beschleunigung an. Fünfzig Milli-g. Einhundert. Loser Kram schwebte immer schneller heckwärts, rotierte und prallte an Hindernissen ab. Dreihundert Milli-g. Eine riesige sanfte Faust drückte Jau in seinen Sessel zurück. Einer der Wachleute hatte sich im freien Raum befunden und keinen Halt erreichen können. Er trieb jetzt vorbei, fiel vorbei und auf die heckwärtige Wand. Fünfhundert Milli-g und weiter anwachsend. Jau drehte sich in seinem Gurtwerk herum und schaute nach hinten, nach oben, zu Brughel und den anderen. Sie waren hinten festgenagelt, gefangen von der Beschleunigung, die immer weiter anstieg…
Und dann erstarb das Triebwerksgeräusch, und Jau schwebte hoch gegen seine Gurte. Brughel rief nach seinen Wachleuten, sammelte sie. Irgendwann bei der Aktion hatte er seine Datenbrille verloren. »Status, Herr Xin!«
Jau starrte auf seine Bildschirme. Die Statusleiste war immer noch ein Wirrwarr. Er schaute hinaus, nach vorn entlang der Umlaufbahn der Hand. Sie waren durch einen Sonnenaufgang geflogen. Trübe erleuchtet erstreckte sich der gefrorene Ozean bis zum Horizont. Doch das war nicht das Entscheidende. Der Horizont selbst sah leicht verändert aus. Nicht gerade der klassische Triebwerksschub, um die Umlaufbahn zu verlassen, doch es wird ausreichen. Jau leckte sich die Lippen. »Herr Hülsenmeister, in ein-, zweihundert Sekunden sind wir in der Suppe.«
Einen Augenblick lang zeichnete sich Entsetzen auf Brughels Gesicht ab. »Bringen Sie uns wieder hoch.«
»Jawohl.« Was blieb sonst zu sagen?
Brughel und seine Schlagetote glitten die Brücke entlang zur heckwärtigen Luke.
Phuong: »Herr Hülsenmeister. Ich habe Sprechfunk von L1.«
»Her damit!«
Es war eine Frauenstimme, Trixia Bonsol. »Grüße an die Menschen an Bord der Unsichtbare Hand. Hier spricht Leutnant Viktoria Lichtberg, Geheimdienst des Einklangs. Ich habe die Kontrolle über Ihr Raumfahrzeug übernommen. Sie werden in Kürze landen. Es kann einige Zeit dauern, bis unsere Truppen an Ort und Stelle erscheinen. Leisten Sie diesen Truppen keinen — ich wiederhole — keinen Widerstand.«
Vor blanker Überraschung stand allen auf der Brücke der Mund offen… doch Bonsol sagte weiter nichts. Brughel fing sich als Erster, doch seine Stimme schwankte. »Phuong. Schalten Sie die Verbindung zu L1 ab. Alle Protokollebenen.«
»Herr Hülsenmeister. Ich… ich kann nicht. Wenn sie erst einmal eingeschaltet ist, bleibt die Verkopplung…«
»Und ob Sie können! Wenden Sie Gewalt an! Hauen Sie mit ’nem Knüppel auf die Anlage, aber schalten Sie sie ab!«
»Herr Hülsenmeister. Sogar ohne die hiesigen Blitzköpfe… ich glaube, L1 kann das umgehen.«
»Darum kümmere ich mich. Wir kommen nach unten.«
Der Wachmann an der Luke schaute zu Brughel hoch. »Geht nicht auf, Herr Hülsenmeister.«
»Phuong!«
Keine Antwort.
Brughel sprang zur Wand neben der Luke, hämmerte auf den Direktöffner. Ebenso gut hätte er auf einen Felsen eindreschen können. Der Hülsenmeister drehte sich um, und Jau sah, dass alle Farbe aus seinem Gesicht gewichen war. Er war leichenblass, und sein Blick war wild. Er hatte jetzt eine Drahtpistole in der Hand und schaute sich auf der Brücke um, als suche er ein Ziel. Sein Blick blieb an Jau hängen. Die Pistole zuckte hoch.
»Herr Hülsenmeister, ich glaube, ich bin zu einem von meinen Piloten durchgedrungen.« Es war pure Lüge, doch ohne seine Datenbrille konnte Brughel das nicht wissen.
»Ach?« Die Pistolenmündung wich ein kleines Stück zur Seite. »Gut. Bleiben Sie dran, Xin. Es geht auch um Ihren Hals.«
Jau nickte und wandte sich zurück, um eifrig an der toten Steuerung zu hantieren.
Hinter ihm verlief die Suche nach der Handbedienung der Luke fieberhaft und obszön und stümperhaft… und wurde schließlich vom Knattern von Pistolenfeuer beendet. Wirbelnde Drähte prallten auf die Brücke zurück. »Scheißdreck! Das bringt’s nicht«, sagte Brughel. Man hörte, wie eine Schranktür geöffnet wurde, doch Jau hielt den Kopf unten und tat sein Möglichstes, verzweifelt hart beschäftigt zu wirken. »Hier. Versucht’s damit!« Es folgte eine Pause, dann eine Reihe von ohrenbetäubenden Detonationen. Herrgott! Brughel hatte diese Art Munition auf der Brücke eines Sternenschiffes aufbewahrt?
Triumphierende Rufe drangen schwach durch das Klingen in seinen Ohren. Dann rief Brugheclass="underline" »Los! Los! Los!«
Jau wandte leicht den Kopf, sah seitlich die Brücke hinter sich. Die Luke war noch immer geschlossen, doch jetzt war ein gezacktes Loch hineingeschlagen. Verbogenes Metall und weniger leicht zu identifizierender Abfall schwebten von dort weg.
Und jetzt war Jau Xin ganz allein auf der Brücke der Hand. Er holte tief Luft und versuchte, in seinen Anzeigen Sinn zu finden. In einem Punkt hatte Ritser Brughel Recht. Hier ging es um Jaus Hals.
Die Leistungskurve des Energiekerns lag noch hoch. Er schaute hinaus über den gekrümmten Horizont. Keine Frage mehr. Die Hand war tiefer, in Übereinstimmung mit der Höhe von achtzigtausend Metern auf der Statusleiste. Er hörte das Grollen der Hilfstriebwerke. Bin ich durchgekommen? Wenn er das Schiff richtig orientieren und irgendwie das Haupttriebwerk zünden könnte… Aber nein, sie schwenkten nicht in die richtige Richtung! Das große Schiff richtete sich in seiner Flugrichtung aus, Heck voran. Links und rechts in der Heckansicht waren Teile der äußeren Schiffshülle zu sehen, schräge spinnwebartige Aufbauten, die für die Ströme interstellaren Plasmas vorgesehen waren, doch nie für die Atmosphäre eines Planeten. Jetzt glühten ihre Ränder. Weiche Gelb- und Rottöne sprühten von ihnen weg wie glühende Ozeangischt. Die schärfsten Kanten glühten weiß und wurden abgestreift. Doch die Hilfstriebwerke arbeiteten noch, ein Muster winziger Schübe. Ein aus. Ein aus. Wer immer seine Piloten leitete, unternahm einen perversen Versuch, die Hand ausgerichtet zu halten. Ohne solche präzise Steuerung hätte der Luftstrom entlang des unregelmäßigen Schiffsrumpfes sie torkeln lassen, eine Million Tonnen Material, das von Kräften zerrissen wurde, für die es nicht geschaffen war.
Das Glühen am Heck war eine sich ausbreitende Lichtfläche, nur an ein paar Stellen klar, wo der Schock nicht heiß genug war, um die Hülle verdampfen zu lassen. Jau wurde zurück in seinen Sessel gedrückt, während die Verzögerung sacht, unerbittlich zunahm. Vierhundert Milli-g, achthundert. Doch diese Verzögerung wurde nicht vom Triebwerk des Schiffes verursacht. Es war eine Planetenatmosphäre, der man sie überlassen hatte.
Und da war ein weiteres Geräusch. Nicht das Dröhnen der Hilfstriebwerke. Es war ein satter, anschwellender Ton. Von der Düse bis zur äußeren Hülle war die Hand eine riesige Orgelpfeife geworden. Der Klang fiel Akkord um Akkord, indes das Schiff tiefer voranstieß, langsamer. Und während das Ionisations-Glühen erzitterte und schwand, schwoll das Sterbelied der Hand zu einem Crescendo an — und war verklungen.
Jau starrte auf die Heckansicht, auf eine Szene, die eigentlich nicht möglich war. Die schrägen Aufbauten waren von ihrem Durchgang durch die Hitze geglättet und geschmolzen worden. Aber die Hand war eine Million Tonnen schwer, und die Piloten hatten sie in der Strömung präzise ausgerichtet gehalten, und das meiste von ihrer enormen Masse war erhalten geblieben.