»Ha. Die arme Nishnimor und Hrunk — als wir durchs Dunkel gingen, sahen wir etwas Ähnliches. Obwohl es damals viel kälter war.« Der Geleitkäfer hatte die Tür aufbekommen. Er schob sie einen Spalt weit auf, und ein Schwall kältester Luft drang in die Kabine.
»Herr Professor…« Rachner wollte sich wegen der kalten Luft beschweren.
»Schon in Ordnung. Sie bleiben nicht lange hier. Was sehen Sie noch?«
»Lichter, die sich von den Treffern her ausbreiten. Ich denke, das ist Ionisierung in den Magnetflecken. Und…« Rachner blieben die Worte im Halse stecken. Da war noch etwas anderes, und er erkannte es. »Ich sehe Spuren vom Wiedereintritt. Dutzende. Sie ziehen über uns hinweg nach Osten.« Rachner hatte derlei bei Tests der Luftverteidigung gesehen. Wenn die Sprengköpfe schließlich durch die Atmosphäre herabkamen, hinterließen sie Spuren, die in einem Dutzend Farben glühten. Selbst bei den Tests waren sie schrecklich gewesen, die zustoßende Hand eines Geistertarants, der vom Himmel her angriff. Ein Dutzend Spuren, und es wurden mehr. Tausende von Projektilen waren ausgeschaltet worden, doch der Rest konnte Städte zerstören.
»Keine Sorge.« Unterbergs Stimme kam leise von Thrakts blinder Seite. »Um die haben sich meine fremden Freunde gekümmert. Diese Sprengköpfe sind jetzt tote Hülsen, ein paar Tonnen radioaktiver Müll. Keine besondere Freude, wenn einem so was direkt auf den Kopf fällt, aber sonst keine Bedrohung.«
Rachner wandte sich um, verfolgte besorgt die Spuren am Himmel. Um die haben sich meine fremden Freunde gekümmert. »Wie sind diese Ungeheuer wirklich? Können wir ihnen trauen?«
»He. Ihnen trauen? Und das fragt ein Geheimdienst-Offizier! Meine Generalin hat ihnen nie getraut, keinem von ihnen. Ich studiere die Menschen seit fast zwanzig Jahren, Rachner. Sie reisen seit Hunderten von Generationen durch den Raum. Sie haben so viel gesehen, so viel getan… Die armen Scheißer glauben, sie wüssten, was unmöglich ist. Sie können zwischen den Sternen fliegen, und ihre Vorstellungskraft sitzt in einem Käfig gefangen, den sie nicht einmal sehen können.«
Die glühenden Striche hatten den Himmel überquert. Die meisten waren in Fernrot oder bis zur Unsichtbarkeit verblasst. Zwei liefen an einem Punkt am Horizont zusammen, wahrscheinlich der Raketenabschussplatz von Hochäquatorien. Thrakt hielt den Atem an und wartete.
Hinter ihm sagte Unterberg etwas wie »Ach, Viktoria«, dann war er sehr still.
Thrakt strengte sich an, um den Norden zu beobachten. Wenn die Sprengköpfe noch aktiv waren, würden die Detonationen selbst jenseits des Horizonts zu sehen sein. Zehn Sekunden. Dreißig. Da waren Stille und Kälte. Und im Norden war nur das Licht der Sterne. »Sie haben Recht, Herr Professor. Was übrig ist, ist nur herabfallender Müll. Ich…« Rachner wandte sich um; auf einmal war ihm bewusst, wie kalt die Kabine plötzlich geworden war.
Unterberg war fort.
Thrakt sprang quer durch die Kabine zu der halboffenen Tür. »Herr Professor! Scherkaner!« Er machte sich daran, die Außenleiter hinabzusteigen, drehte den Kopf hin und her und versuchte, einen Blick auf Unterberg zu erhaschen. Die Luft war ruhig, aber schneidend kalt. Ohne beheizten Atmer hätte er sich binnen Minuten die Lungen verbrannt.
Da! Ein Dutzend Meter von der Maschine entfernt, im Schatten der Sterne und des Glühens am Himmel, zwei fernrote Flecken. Unterberg humpelte langsam hinter Mobiy her. Der Geleitkäfer zog ihn sanft weiter, tastete bei jedem Schritt den Berghang mit seinen langen Armen ab. Es war das instinktive Verhalten eines Tiers in hoffnungsloser Kälte, das bis zuletzt versuchte, eine wirksame Tiefe zu finden. Hier in einem x-beliebigen Nirgendwo hatte das Tier keine Chance. In weniger als einer Stunde würde es mitsamt seinem Herrn tot sein, ihre Körpergewebe von der Kälte ausgetrocknet.
Thrakt kletterte die Leiter hinab und rief Unterberg. Und über ihm begannen die Rotorblätter, sich schneller zu drehen. Thrakt krümmte sich unter dem eiskalten Schwall zusammen. Als die Turbinen hochfuhren und der Rotor echten Auftrieb zu erzeugen begann, machte Rachner kehrt und zog sich zurück in die Kabine. Er hieb auf den Autopiloten ein, auf jede Unterbrechung.
Es spielte keine Rolle. Die Turbinen hatten Startleistung erreicht, und der Hubschrauber hob ab. Thrakt erhaschte einen letzten flüchtigen Blick auf die Schatten, die Scherkaner Unterberg verbargen. Dann neigte sich die Maschine nach Osten, und die Szene hinter ihm verschwand.
Einundsechzig
Gasausbrüche in kleinen Räumen waren normalerweise tödlich. Und zwar rasch. Es war einer seiner Wachleute, der unwillkürlich Tomas Nau rettete. Gerade, als die Taxihülle durchschmolz, hatte Tung seine Gurte gelöst und war auf die Luke zugesprungen. Die ausströmende Luft zerrte an ihnen allen, doch Tung hatte keinen Halt und befand sich am nächsten bei dem Loch. Er stieß Kopf voran in die geschmolzene Stelle, wurde bis zu den Hüften durchgesogen.
Irgendwie hatte Qiwi ihren Platz bei der verkeilten Taxiluke behauptet. Jetzt hatte sie auch die Luke von L1-A offen. Sie wandte sich um, packte ihren Vater und stieß ihn durch die Luke hinter sich. Es war eine einzige gleitende Bewegung, fast ein Tanz. Nau hatte noch kaum begonnen zu reagieren, als sie sich ein zweites Mal umwandte, einen Fuß in eine Wandschlaufe hakte und die Hand ausstreckte, um mit den Fingerspitzen seinen Ärmel zu ergreifen. Sie zog sacht, und als er näher kam, packte sie ihn mit aller Kraft und schob ihn durch die Luke in Sicherheit.
Sicher. Und noch vor fünf Sekunden war ich so gut wie tot. Das Pfeifen der ausströmenden Luft war laut. Der beschädigte Andockring konnte jede Sekunde nachgeben.
Qiwi ließ sich von der Luke zurückfallen. »Ich hole Marli und Ciret.«
»Ja!« Nau kam an die Öffnung zurück und verwünschte sich, dass er in dem Chaos seine Drahtpistole verloren hatte. Er schaute ins Taxi. Einer der Wachleute war offensichtlich tot: Tungs Beine zuckten nicht einmal. Marli war wahrscheinlich auch tot, jedenfalls erledigt, obwohl sich Qiwi abmühte, sowohl ihn als auch Ciret freizukriegen. In einer Sekunde würde sie sie aus dem Taxi haben, so rasch und effizient, wie sie ihn und Ali Lin gerettet hatte. Qiwi war einfach zu gefährlich, und das war seine letzte Gelegenheit, sie von der Bildfläche zu nehmen.
Nau drückte gegen die Luke von L1-A. Sie drehte sich glatt, von Luftströmungen gedrückt, und fiel mit ohrenbetäubendem Krachen zu. Seine Finger tanzten über die Zugangssteuerung, tippten den Code für eine Not-Absprengung ein. Von der anderen Seite der Wand ertönte das explosive Rumm von ausströmendem Gas, das Knallen von Metall gegen Metall. Nau sah im Geiste ein luftloses Taxi, das von der Schleuse wegtrieb. Soll Pham Nuwen seine Zielübungen an den Toten machen.
Der Druck in der Schleuse stieg rasch auf den Normalwert. Nau drückte die Innenluke auf und zog Ali Lin hindurch in den Korridor dahinter. Der alte Mann murmelte, halb bei Bewusstsein. Wenigstens hatten seine Blutungen aufgehört. Stirb mir nicht weg, verdammt. Momentan war Ali wertloses Fleisch, doch auf lange Sicht war er ein Schatz. Auch wenn er ihn nicht verlor, konnte es teuer genug werden.
Er schob Ali sanft den langen Korridor entlang. Die Wände ringsum waren grüner Kunststoff. Dies war der Sicherheitsbunker an Bord der Gemeinwohl gewesen. Dort hatte seine unregelmäßige Form Sinn gehabt; jetzt machten seine monolithische Konstruktion und seine Panzerung seinen Wert aus, etliche Meter Kompositwerkstoffe mit dem Schmelzpunkt von Wolfram. Alle Feuerkraft, über die Pham Nuwen verfügte, brachte ihn nicht hier herein.