Wenigstens etwas Glück: Vinh war perfekt, seine Druckjacke wie eine Schlachterschürze mit Alis Blut befleckt. Hinter ihm erklang das Klappern des ruinierten Parks. Die Stimme des Krämers war atemlos und rau. »Wir haben L1 genommen, Qiwi. Außer ein paar Mordgesellen von Nau haben wir niemanden verletzt« — und das, während ihr eigener Vater blutend in seinen Armen lag! »Nau benutzt dich, wie er es immer tut. Nur wird er uns diesmal alle umbringen. Sieh dich um! Er hat vor, eine Atombombe auf das Temp abzufeuern.«
»Ich…« Doch Qiwi schaute sich wirklich um, und es gefiel Nau nicht, was er in ihren Augen sah.
»Qiwi«, sagte Nau. »Schau mich an! Wir haben es mit derselben Gruppe zu tun, die hinter Jimmy Diem stand.«
»Du hast Jimmy ermordet!«, rief Vinh.
Qiwi wischte sich die blutige Nase am weißen Stoff ihres Ärmels ab. Einen Augenblick lang wirkte sie sehr jung und verloren, so wie damals, als er sie zum ersten Mal gefickt hatte. Sie hakte den Fuß in eine Wandhalterung und wandte sich ihm zu, überlegte. Irgendwie musste er Zeit schinden, nur ein paar Sekunden:
»Qiwi, bedenke, wer das sagt.« Nau zeigte auf Vinh und Ali Lin. Es war ein schreckliches Risiko, das er einging, eine verzweifelte Manipulation. Doch es funktionierte! Sie wandte sich wirklich ein Stück um, ihr Blick glitt von ihm ab. Er steckte die Hand in den Schrank, tastete nach dem Griff einer Drahtpistole.
»Qiwi, bedenke, wer das sagt.« Nau zeigte auf Ezr und Ali Lin. Die arme Qiwi wandte sich wirklich um und blickte herüber. Hinter ihr sah Ezr ein spöttisches Lächeln über Tomas Naus Gesicht huschen.
»Du kennst Ezr. Er hat versucht, in Nordpfote deinen Vater umzubringen; er dachte, er könnte mich mit Ali erpressen. Du weißt, was für ein Sadist Ezr Vinh ist. Du erinnerst dich, wie er dich verprügelt hat; du erinnerst dich, wie ich dich danach umarmt habe.«
Die Worte waren an Qiwi gerichtet, doch sie trafen Ezr wie vernichtende Schläge, grässliche Wahrheiten vermischt mit tödlichen Lügen.
Einen Augenblick lang rührte sich Qiwi nicht. Doch jetzt waren ihre Hände verkrampft, ihre Schultern schienen wie unter einer schrecklichen Spannung gebeugt. Und Ezr dachte: Nau wird siegen, und ich bin der Grund. Er stieß das Grau zurück, das von allen Seiten auf ihn einzuströmen schien, und machte einen letzten Versuch: »Nicht um meinetwillen, Qiwi. Für all die anderen. Für deine Mutter. Bitte. Nau hat dich vierzig Jahre lang belogen. Immer, wenn du die Wahrheit erfährst, verpasst er dir eine Gehirnwäsche. Wieder und wieder. Und du kannst dich nie erinnern.«
Erkenntnis und krasses Entsetzen breiteten sich auf Qiwis Gesicht aus. »Diesmal werde ich mich erinnern.« Sie wandte sich um, als Nau etwas aus dem Schrank hinter sich zog. Ihr Ellbogen rammte in seine Brust. Es gab ein Geräusch wie brechende Äste; Nau wurde gegen den Schrank geschleudert und von dort hinaus in den freien Raum des Bunkers. Eine Drahtpistole schwebte hinter ihm her. Nau langte nach der Waffe, doch sie war Zentimeter von seiner Hand entfernt, und er konnte sich auf nichts stützen als dünne Luft.
Qiwi löste sich von der Wand, streckte sich und packte die Drahtpistole. Sie richtete die Mündung auf den Kopf des Hülsenmeisters.
Nau torkelte langsam; er warf sich herum, um Qiwi anzuschauen. Er öffnete den Mund, den Mund, der eine überzeugende Lüge für jede Gelegenheit hatte. »Qiwi, du kannst nicht…«, begann er, und dann musste er den Ausdruck in Qiwis Gesicht gesehen haben. Naus Hochmut, die glatte kühle Arroganz, die Ezr ein halbes Leben lang beobachtet hatte, war plötzlich wie weggeblasen. Naus Stimme wurde zu einem Flüstern. »Nein… nein!«
Qiwis Kopf und Schultern bebten, doch ihre Worte waren hart wie Stein. »Ich erinnere mich.« Sie zog die Waffe von Naus Gesicht abwärts, zielte unter seine Gürtellinie… und feuerte lange. Naus Schrei wurde zu einem Winseln, das endete, als ihn das Drahtfeuer um 180 Grad herumgewirbelt hatte und seinen Kopf traf.
Zweiundsechzig
Es war sehr dunkel, und dann war da Licht. Sie schwebte aufwärts, ihm entgegen. Wer bin ich? Die Antwort kam rasch, mit einer Woge von Entsetzen. Anne Reynolt.
Erinnerungen. Der Rückzug in die Berge. Die letzten Tage des Versteckspiels, die Eindringlinge von Balacrea, die jeden ihrer Schlupfwinkel fanden. Der Verräter, zu spät entlarvt. Ihre letzten Leute, aus der Luft überfallen. Sie steht an einem Berghang, umringt von balacreanischen Waffen. Selbst in der kalten Morgenluft lag ein starker Gestank von verbranntem Fleisch, doch der Feind hatte zu schießen aufgehört. Sie hatten sie lebendig gefangen genommen.
»Anne?« Die Stimme war sanft, tröstlich. Die Stimme eines Folterers, der die Stimmung für größeres Entsetzen vorbereitete. »Anne?«
Sie öffnete die Augen. Balacreanische Folterwerkzeuge wölbten sich rings um sie, gerade am Rande ihres Gesichtsfeldes. Es war der ganze Schrecken, den sie erwartete, nur dass sie sich in Schwerelosigkeit befanden. Seit fünfzehn Jahren haben sie unsere Städte in Besitz. Wozu mich in den Raum schaffen?
Ihr Verhörer schwebte in Sicht. Schwarzes Haar, typisch balacreanische Hautfarbe, ein jung-altes Gesicht. Das musste ein Leitender Hülsenmeister sein. Doch er trug eine seltsame Fraktille-Jacke wie kein Hülsenmeister, den Anne jemals gesehen hatte. Es war ein Ausdruck falscher Sorge auf sein Gesicht geklebt. Ein Dummkopf, er übertreibt. Er ließ einen Strauß weicher weißer Blumen auf ihren Schoß schweben, als mache er ihr ein Geschenk. Sie rochen nach warmen Sommern der Vergangenheit. Es muss eine Möglichkeit geben, zu sterben. Es muss eine Möglichkeit geben, zu sterben. Ihre Arme waren festgebunden, natürlich. Wenn er nahe genug herankam, hatte sie noch ihre Zähne. Vielleicht, wenn er dumm genug war…
Er streckte die Hand aus, berührte sanft ihre Schulter. Anne warf sich herum, erwischte ein Stück von der tastenden Hand des Hülsenmeisters. Er fuhr zurück und hinterließ eine Spur von winzigen roten Tropfen, die in der Luft zwischen ihnen schwebten. Doch er war nicht dumm genug, um sie auf der Stelle zu töten. Vielmehr blickte er an den aufgereihten Apparaten entlang wütend auf jemanden, den sie nicht sah. »Trud! Was, zum Teufel, hast du mit ihr gemacht?«
Sie hörte eine weinerliche Stimme, die ihr irgendwie vertraut war. »Pham, ich habe dich gewarnt, dass das eine schwierige Prozedur ist. Ohne ihre Anleitung können wir nicht sicher sein…« Der Sprecher kam in Sicht. Es war ein kleiner und nervös wirkender Bursche in der Uniform eines balacreanischen Technikers. Seine Augen wurden groß, als er das Blut in der Luft sah. Der Blick, den er Anne zuwarf, war auf befriedigende — und unerklärliche — Weise voll Furcht. »Al und ich können nur unser Bestes tun. Wir hätten warten sollen, bis wir Bil wiederhaben… Schau, vielleicht ist es nur ein vorübergehender Gedächtnisverlust.«
Der ältere Bursche geriet in Rage, schien aber auch Angst zu haben. »Verdammt! Ich wollte eine Defokussierung und keine Gehirnwäsche!«
Der kleine Mann, Trud… Trud Silipan, wich zurück. »Keine Sorge. Ich bin sicher, sie wird wieder. Wir haben die Gedächtnisstrukturen nicht angerührt, ich schwör’s.« Er warf einen weiteren furchtsamen Blick in ihre Richtung. »Vielleicht… ich weiß nicht, vielleicht hat die Defokussierung geklappt, und wir erleben eine Art Autorepression.« Er kam etwas näher, noch immer außer Reichweite ihrer Hände und Zähne, und lächelte sie matt an. »Chefin? Erinnern Sie sich an mich, Trud Silipan? Wir haben über Jahre von Wachzeit zusammengearbeitet, und vorher auf Balacrea, unter Alan Nau. Erinnern Sie sich nicht?«