»Wir haben die Raffinerie in Betrieb genommen, Herr Hülsenmeister. Wir werden in ein paar Kilosek beginnen, sie mit Rohstoff zu versorgen.« Und könnten die Taxis auftanken. »Ich hoffe, dass wir die letzten Eisblöcke binnen vierzig Kilosek am Boden und im Schatten haben.«
Nau warf Anne Reynolt einen Blick zu.
»Die Schätzung ist vernünftig, Hülsenmeister. Alle anderen Probleme sind unter Kontrolle.«
»Dann haben wir Zeit für die wichtigen, menschlichen Angelegenheiten. Herr Vinh, wir werden später am Tag mehrere Mitteilungen machen. Ich möchte, dass Sie sie verstehen. Sowohl Ihnen als auch Qiwi Lisolet werden wir für Ihre Hilfe beim Aufspüren der Verschwörung danken.«
»Aber…«
»Ja, ich weiß, dass es da ein Element der Vorspiegelung gibt. Aber Qiwi ist nie in die Verschwörung eingeweiht gewesen, und sie hat uns tüchtig geholfen.« Nau machte eine Pause. »Das arme Mädchen ist davon zerrissen worden. In ihr steckt eine Menge Zorn. Um ihretwillen und im Interesse der ganzen Gemeinschaft bitte ich Sie, auf die Geschichte einzugehen. Ich brauche die Betonung, dass es bei der Dschöng Ho viele gibt, die nicht irrational sind, die gelobt haben, mit mir zusammenzuarbeiten.«
Er machte eine Pause. »Und jetzt das Wichtigste. Sie haben meine Rede gehört, den Teil, wo es darum ging, die Lebensweise der Aufsteiger kennen zu lernen?«
»Den… Fokus?« Was sie wirklich mit Trixia gemacht hatten.
Hinter Nau huschte das sadistische Grinsen abermals über Ritser Brughels Gesicht.
»Das ist die Hauptsache«, sagte Nau. »Vielleicht hätten wir offen darüber sprechen sollen, aber die Ausbildungszeit war noch nicht abgeschlossen. Unter den gegenwärtigen Umständen kann Fokus über Leben und Tod entscheiden. Ezr, ich möchte, dass Anne sie mit hinüber nach Hammerfest nimmt und Ihnen alles erklärt. Sie werden der Erste sein — das sollen Sie verstehen —, der seinen Frieden damit macht. Wenn Sie das getan haben, möchte ich folgendes: Erklären Sie Ihren Leuten Fokus, und zwar so, dass sie ihn akzeptieren, damit, was von unseren Missionen noch übrig ist, überleben kann.«
Und so sollte das Geheimnis, das Vinh unbedingt hatte erfahren wollen, das seit Megasekunden jeden seiner Träume bestimmte, ihm offenbart werden. Ezr folgte Reynolt den Zentralkorridor hinauf zur Taxischleuse. Jeder Meter kostete ihn Überwindung Fokus. Die Infektion, die sie nicht kurieren konnten. Die Geistfäule. Es hatte Gerüchte gegeben, Albträume, und nun würde er es wissen.
Reynolt winkte ihn in ein Taxi. »Setzten Sie sich dort drüben hin, Vinh.« So paradox es war, er hatte lieber mit Anne Reynolt zu tun. Sie verbarg ihre Verachtung nicht, und sie zeigte nichts von dem sadistischen Triumph, der aus Ritser Brughel hervorquoll.
Das Taxi schloss sich und flog los. Das Dschöng-Ho-Temp war noch immer am Felshaufen vertäut. Das Sonnenlicht war noch zu hell, als dass man es hätte losmachen können. Der purpurfarbene Himmel war wieder zu Schwarz verblasst, doch ein halbes Dutzend Kometenschweife strich über die Sterne — diverse Eisblöcke, die jetzt ein paar Kilometer entfernt schwebten. Wen und Xin waren irgendwo da draußen.
Hammerfest lag keine fünfhundert Meter vom Temp entfernt, ein leichter freier Sprung, wenn Reynolt gewollt hätte. Stattdessen legten sie die Distanz in hemdsärmeligem Komfort zurück. Wenn man das alles nicht vor dem Aufflammen gesehen hatte, ahnte man vielleicht die Katastrophen nicht, die sich ereignet hatten. Die ungeheuren Felsen hatten längst wieder aufgehört, sich zu bewegen. Loses Eis und Schnee waren neu über den Schattenbereich verteilt worden, größere Brocken und kleinere und kleinere und kleinere, ein fraktaler Haufen. Nur gab es jetzt weniger Eis und viel weniger Luftschnee. Jetzt war die Schattenseite des Gemengsels wie von einem hellen Mond erleuchtet — von dem Licht, das die Arachna zurückwarf. Das Taxi zog fünfzig Meter über einige Arbeitsgruppen hinweg, die damit beschäftigt waren, die Elektro-Triebwerke neu anzuordnen. Als er das letzte Mal nachgesehen hatte, war Qiwi Lisolet dort unten und leitete mehr oder weniger die Arbeiten.
Reynolt hatte sich ihm gegenüber angeschnallt. »Die erfolgreich Fokussierten sind alle in Hammerfest. Sie können fast mit jedem sprechen, mit dem Sie wollen.«
Hammerfest sah wie ein elegantes Privatgrundstück aus. Es war das luxuriöse Herz der Operation der Aufsteiger. Das hatte Ezr ein wenig zum Trost gereicht. Er hatte sich gesagt, dass Trixia und die anderen dort wohl anständig behandelt würden. Vielleicht hielt man sie wie die Geiseln in der Geschichte der Dschöng Ho, wie die Einhundert von Fern-Pyorya. Aber kein vernünftiger Kauffahrer hätte jemals ein Habitat gebaut, das in einem Geröllhaufen verankert war. Das Taxi glitt über Türme von unheimlicher Schönheit, ein Feenschloss, das aus der Kristallebene entsprang. Bald würde er wissen, was das Schloss verbarg… Endlich drang ihm Reynolts Formulierung ins Bewusstsein. »Die erfolgreich Fokussierten?«
Reynolt zuckte die Achseln. »Fokus ist Geistfäule an der Leine. Wir haben dreißig Prozent der ursprünglichen Umformungen verloren, in den kommenden Jahren verlieren wir vielleicht weitere. Wir hatten die am schlimmsten Erkrankten auf die Ferner Schatz verlegt.«
»Aber was…?«
»Seien Sie still! Und lassen Sie mich erzählen!« Ihre Aufmerksamkeit huschte zu etwas hinter Vinhs Schulter, und sie schwieg für einige Sekunden. »Sie erinnern sich, dass Sie zur Zeit des Überfalls krank wurden. Sie haben erraten, dass das eine von uns maßgeschneiderte Krankheit war; die Inkubationszeit war ein wichtiger Teil unserer Planung. Was Sie nicht wissen: Die militärische Verwendung der Mikrobe ist von untergeordneter Bedeutung.« Die Geistfäule war eine Vireninfektion. Ihre ursprüngliche, natürliche Form hatte im heimatlichen Sonnensystem der Aufsteiger Millionen getötet, hatte ihre Zivilisation zerschmettert… und die Szene für die gegenwärtige Epoche der Expansion bereitet. Denn die ursprünglichen Stämme der Mikrobe hatten eine neuartige Eigenschaft: Sie waren eine Schatzkammer von Nervengiften.
»In den Jahrhunderten seit der Zeit der Seuche hat der Aufstieg die Geistfäule abgeschwächt und in den Dienst der Zivilisation gestellt. Ihre gegenwärtige Form braucht besondere Unterstützung, um die Hirnschranke zu durchbrechen, und breitet sich auf fast harmlose Weise im Gehirn aus, wobei sie etwa neunzig Prozent der Glia-Zellen infiziert, des Stütz- und Nährgewebes. Und jetzt können wir die Ausschüttung neuroaktiver Stoffe kontrollieren.«
Das Taxi bremste und drehte sich, um präzise die Schleuse von Hammerfest zu treffen. Arachna glitt über den Himmel, ein ›Vollmond‹ von fast einem halben Grad Durchmesser. Der Planet strahlte weiß und ohne Einzelheiten, da Wolkendecken seine furiose Wiedergeburt verbargen.
Ezr bemerkte es kaum. Seine Phantasie war von dem Bild gefangen, das hinter Anne Reynolts Worten lauerte: das Haustier-Virus der Aufsteiger, wie es das Gehirn durchdrang, sich milliardenfach vermehrte, Gift in das noch lebende Hirn tröpfeln ließ. Er erinnerte sich an den tödlichen Druck in seinem Kopf, als das Landeboot von der Arachna aufgestiegen war. Das war die Krankheit gewesen, die an die Pforten seines Geistes hämmerte. Ezr Vinh und alle anderen im Dschöng-Ho-Temp hatten diesen Angriff abgewehrt — oder vielleicht waren ihre Hirne noch immer infiziert, und die Krankheit ruhte. Aber Trixia Bonsol und die Menschen mit dem ›Fokus‹-Zeichen neben ihren Namen hatten eine Sonderbehandlung erhalten. Statt sie zu heilen, hatten Reynolts Leute die Krankheit im Hirn ihrer Opfer wachsen lassen wie Schimmel in einer Frucht. Wenn es auch nur eine Andeutung von Schwerkraft in dem Taxi gegeben hätte, hätte Ezr sich übergeben. »Aber warum?«