Also würde Tomas Nau vielleicht hundert Jahre alt sein, ehe er hier den Triumph erlebte. Nach balacreanischen Maßstäben war das ein mittleres Alter. Nau seufzte. Sei’s drum. Die Dschöng-Ho-Medizin würde die verlorene Zeit mehr als wettmachen. Und dann…
Auf der anderen Seite des Zimmers regte sich das Krämer-Mädchen in ihrem Bett. »Was…?« Qiwi Lisolet erwachte. Durch ihre Bewegung schwebte sie aus dem Bett hoch. Sie hatte fast drei Tage durchgearbeitet und wieder versucht, eine stabile Anordnung für den Felshaufen zu finden. Lisolets Blick ging unstet umher. Sie wusste wahrscheinlich nicht einmal, wovon sie erwacht war. Ihre Augen fixierten Nau, der am Fenster stand, und ein mitfühlendes Lächeln breitete sich über ihr Gesicht aus. »Oh, Tomas, findest du wieder keinen Schlaf vor Sorge um uns?«
Sie streckte die Arme aus, eine tröstende Geste. Nau lächelte scheu und nickte. Verdammt, was sie sagte, war sogar annähernd wahr. Er schwebte durchs Zimmer, stoppte die Bewegung mit einer Hand, an der Wand hinter ihrem Kopf. Sie schlang die Arme um ihn, und sie schwebten langsam hinab auf das Bett unter ihnen. Er legte ihr die Arme um die Taille, fühlte, wie sie ihre starken Beine um seine schlang. »Du tust dein Möglichstes, Tomas. Versuche nicht, mehr zu tun. Es kommt alles in Ordnung.« Ihre Hände strichen zärtlich über das Haar in seinem Nacken, und er spürte, wie sie innerlich zitterte. Es war Qiwi Lisolet, die sich Sorgen machte, die sich zu Tode arbeiten würde, wenn sie glaubte, sie könnte damit ihrer aller Überlebenschance um ein Prozent erhöhen. Lange Sekunden trieben sie schweigend dahin, bis die Schwerkraft sie zu dem üppigen Geflecht von Spitze herabzog, das ihr Bett war.
Nau ließ seine Hände auf ihren Flanken hin und her wandern; er spürte, wie die Sorge in ihr langsam abklang. Eine Menge war bei dieser Mission schief gelaufen, doch Qiwi Lisolet konnte als kleiner Triumph verbucht werden. Sie war vierzehn gewesen — frühreif, naiv, eigensinnig —, als Nau die Dschöng-Ho-Flotte kassierte. Das Mädchen war wirksam mit Geistfäule infiziert. Sie hätte fokussiert werden können; eine Zeit lang hatte er erwogen, sie zu seinem Körperspielzeug zu machen. Der Seuche sei Dank, dass ich es nicht getan habe.
In den ersten paar Jahren hatte das Mädchen einen großen Teil der Zeit in diesem Zimmer verbracht und geweint. Diems ›Mord‹ an ihrer Mutter hatte sie zur ersten völlig aufrichtigen Überläuferin gemacht. Nau hatte Megasekunden damit verbracht, sie zu trösten. Zunächst war das nur eine Übung in Überzeugungskunst gewesen, mit der möglichen Nebenwirkung, dass Qiwi seine Glaubwürdigkeit bei den anderen Krämern erhöhen würde. Doch im Laufe der Zeit erkannte Nau, dass das Mädchen gefährlicher und nützlicher war, als er geglaubt hatte. Qiwi hatten einen großen Teil ihrer Kindheit wach auf dem Flug von Triland verbracht. Sie hatte die Zeit mit fast fokusmäßiger Intensität genutzt, Bauingenieurswesen, Lebenserhaltungs-Technik und Handelspraktiken gelernt. Es war sonderbar: Warum erhielt ein einzelnes Kind solch eine besondere Behandlung? Wie so viele Teile der Dschöng Ho hatte die Lisolet-Familie ihre eigenen Geheimnisse, ihre eigene interne Kultur. Während der Verhöre hatte er die wahrscheinliche Erklärung aus der Mutter des Mädchens herausgequetscht. Die Lisolets benutzten die Zeit zwischen den Sternen, um jene Mädchen zu formen, die für Führungspositionen in der Familie vorgesehen waren. Wenn es nach Kira Pen Lisolets Plänen gegangen wäre, wäre das Mädchen hier am Ziel für die weitere Unterweisung bereit gewesen, völlig beherrscht von ihrer Loyalität ihrer Mutter gegenüber.
Wie es sich ergeben hatte, eignete sich das Mädchen dadurch ideal für Tomas Naus Zwecke. Sie war jung und begabt und brauchte dringend jemanden, dem sie ihre Loyalität zuwenden konnte. Er konnte sie Wache um Wache ohne Kälteschlaf verbringen lassen, ganz wie er es selbst tun musste. Sie würde eine gute Gefährtin für die vor ihm liegende Zeit sein — und eine, die als ständige Probe für seine Pläne diente. Qiwi war klug, und ihre Persönlichkeit war in vieler Hinsicht noch sehr unabhängig. Selbst jetzt, nachdem die Beweise, was ihrer Mutter und den anderen wirklich zugestoßen war, sicher ins Nichts gesprengt waren, konnten Schnitzer passieren. Qiwi zu benutzen, war anstrengend, eine permanente Mutprobe. Doch wenigstens verstand er die Gefahr jetzt und hatte Vorkehrungen getroffen.
»Tomas…« Sie wandte sich ihm direkt zu. »Glaubst du, dass ich diesen Felshaufen jemals stabil kriege?«
Das war wirklich etwas, worum sie sich sorgen sollte. Ritser Brughel — oder selbst ein jüngerer Tomas Nau — hätte nicht erkannt, dass die korrekte Antwort keine Drohung oder auch nur Missbilligung sein konnte. »Ja, dir wird etwas einfallen. Uns wird etwas einfallen. Nimm dir ein paar Tage frei, ja? Der alte Trinli kommt in dieser Wache aus dem Kälteschlaf. Lass ihn den Felshaufen eine Weile balancieren.«
Qiwis Lachen ließ sie sogar noch jünger wirken, als sie aussah. »O ja. Pham Trinli!« Er war der Einzige von Diems Mitverschwörern, für den sie eher Mitleid als Zorn empfand. »Weißt du noch, wie er letztes Mal das Gleichgewicht gehalten hat? Er redet viel, aber er hat so schüchtern angefangen. Ehe er es sich versah, trieb der Felshaufen mit drei Metern pro Sekunde von L1 weg. Dann reagierte er zu heftig, und…« Sie begann wieder zu lachen. Die merkwürdigsten Dinge brachten dieses Krämermädchen zum Lachen. Es war eins von den Rätseln an ihr, das ihn noch fesselte.
Lisolet schwieg einen Augenblick, und als sie schließlich sprach, überraschte sie den Hülsenmeister. »Tja… vielleicht hast du Recht. Wenn es nur vier Tage sind, kann ich alles so vorbereiten, dass selbst Trinli nicht viel Schaden anrichten kann. Ich muss wirklich Abstand gewinnen, über einiges nachdenken. Vielleicht können wir die Blöcke doch noch mit Wasser zusammenfügen… Außerdem hat Papa diese Wache Dienst. Ich wäre gern ein wenig mehr mit ihm zusammen.« Sie schaute ihn fragend an und bat implizit um Freistellung vom Dienst.
Hmm. Manchmal kam bei der Manipulation nicht das Erwartete heraus. Er hätte drei Blitzköpfe gewettet, dass sie ihn mit seinem Angebot nicht beim Wort nehmen würde. Ich könnte sie immer noch davon abbringen. Er konnte gerade mit genug Zögern zustimmen, dass sie sich schämte. Nein. Es lohnte sich nicht, nicht diesmal. Und wenn man etwas nicht verbietet, sollt man die Erlaubnis von ganzem Herzen geben. Er zog sie an sich. »Ja! Sogar du musst lernen, dich zu entspannen.«
Sie seufzte, lächelte mit einem Anflug von Verschmitztheit. »O ja, aber das habe ich schon gelernt.« Sie griff nach seinem Glied, und eine Zeit lang schwiegen sie beide. Qiwi Lisolet war noch ein ungeschickter Teenager, doch sie lernte. Und Tomas Nau hatte noch Jahre, um sie zu lehren, wie man einen Mann wie ihn befriedigte. Kira Pen Lisolet hatte nicht annähernd so viel Zeit gehabt, und sie war eine Erwachsene gewesen, die Widerstand geleistet hatte. Nau lächelte bei der Erinnerung. O ja. Auf unterschiedliche Weise hatten ihm Mutter wie Tochter gute Dienste geleistet.
Ali Lin war nicht in die Lisolet-Familie hineingeboren worden. Er war Kira Pan Lisolets Erwerbung von außen gewesen. Ali war einer unter einer Billion, ein Genie, was Parks und Lebewesen anging. Und er war Qiwis Vater. Sowohl Kira als auch Qiwi hatten ihn sehr geliebt, obwohl er nie sein konnte, was Kira war und was Qiwi eines Tages sein würde.
Ali Lin war wichtig für die Aufsteiger, wohl so wichtig wie nur irgendeiner von den Fokussierten. Er war einer der wenigen, die einen Arbeitsplatz außerhalb der Käfterchen von Hammerfest hatten. Er war einer der wenigen, die nicht ständig von Anne Reynolt oder einem ihrer Mitarbeiter überwacht wurden.
Jetzt saßen er und Qiwi in den Baumwipfeln des Dschöng-Ho-Parks und spielten ein langsames, geduldiges Spiel mit den Käfern. Sie war seit zehn Kilosekunden hier und Papa etwas länger. Er ließ sie DNS-Differenzierungen an den neuen Stämmen von Müllspinnen durchführen, die er gezüchtet hatte. Selbst jetzt schien er ihr bei dieser Arbeit zu vertrauen und überprüfte nur etwa alle Kilosekunden die Ergebnisse. Die übrige Zeit verlor er sich in seinen Untersuchungen von Blättern und einer Art tagträumerischen Betrachtungen, wie er die Aufträge ausführen könnte, die ihm Anne Reynolt gegeben hatte.