»Wir würden also eine Pflanze bekommen?«
»Nein. Wenn wir ihn lösen und den Fokus rückgängig machen, wird er die Persönlichkeit und einen Großteil der Erinnerungen von vorher haben. Er wird nur kein allzu guter Physiker mehr sein.«
»Hmm«, sagte Nau und überlegte. Sie konnten also den Krämer nicht einfach defokussieren und den außenstehenden Experten bekommen, den Reynolt brauchte. Und ich denke nicht im Traum daran, den dritten Burschen zu defokussieren. Doch es gab eine sehr saubere Lösung, die dennoch Nutzen aus allen drei Männern zog. »Gut, Anne. Hier ist mein Vorschlag: Bringen Sie den anderen Physiker ins Spiel, aber mit eingeschränktem Dienstzyklus. Legen Sie Dr. Li auf Eis, solange der neue Mann seine Ergebnisse durchsieht. Das bringt nicht so viel wie eine Durchsicht ohne Fokus, aber wenn Sie es geschickt anstellen, könnten die Ergebnisse ziemlich frei von Vorurteilen sein.«
Wieder ein Achselzucken. Anne Reynolt hatte keine falsche Bescheidenheit, sie wusste aber auch nicht, wie außerordentlich gut sie war.
»Was Hunte Wen angeht«, fuhr Nau fort, »er hat sein Möglichstes für uns getan, und mehr können wir nicht verlangen.« Und zwar laut Anne buchstäblich. »Ich möchte, dass sie ihn defokussieren.«
Ezr Vinh starrte mit offenem Mund. Die anderen Krämer sahen fast ebenso schockiert aus. Es gab dabei ein kleines Risiko; Hunte Wen würde nicht der beste Beweis sein, dass Fokus rückgängig gemacht werden konnte. Anderseits war er offensichtlich ein Härtefall. Zeig deine Sorge: »Wir haben Dr. Wen über fünf Jahre lang pausenlos betrieben, und ich sehe, dass er schon in den mittleren Jahren ist. Benutzen Sie alle notwendigen medizinischen Mittel, um ihm die bestmögliche Gesundheit zu geben.«
Es war der letzte Tagesordnungspunkt, und danach dauerte die Besprechung nicht mehr lange. Nau sah zu, wie alle hinausschwebten und einander ihre Begeisterung über Lis Entdeckung und Wens Freilassung zuplapperten. Ezr Vinh verließ den Raum als Letzter, redete aber mit niemandem. Der Junge hatte einen irgendwie glasigen Blick. Ja, Herr Vinh. Seien Sie brav, und ich werde vielleicht eines Tages diejenige freilassen, die Ihnen am Herzen liegt.
Sechzehn
Es wurde sehr ruhig während der Zwischenwache. Die meisten Wachen waren Vielfache von Megasekunden, mit Überschneidungen, damit die Leute ihre Ablösung in die aktuellen Probleme einweisen konnten. Die Zwischenwache war kein Geheimnis, aber Nau behandelte sie offiziell als Schwachstelle in der Zeitplanung, eine Lücke von vier Tagen, die hin und wieder zwischen Wachen vorkam. Eigentlich war es so etwas wie die fehlende siebte Etage oder der mythische Zaubertag, der zwischen Eintag und Zweitag liegt.
»Sagt mal, wäre es nicht großartig, daheim Zwischenwachen zu haben?«, witzelte Brughel, als er mit Nau und Kal Omo zu den Stapeln von Kälteleichen hineinging. »Ich habe auf Frenk fünf Jahre lang Sicherheitsdienst gemacht — es wäre bestimmt einfacher gewesen, wenn ich immer mal wieder eine Auszeit hätte erklären und das Spiel so umordnen können, wie ich es brauchte.« Im Lagerraum klang seine Stimme laut, das Echo kam aus mehreren Richtungen zurück. Eigentlich waren sie die Einzigen, die an Bord der Suivire wach waren. Unten in Hammerfest gab es noch Reynolt und ein Kontingent wacher Blitzköpfe. Eine Rumpfmannschaft von Aufsteigern und Krämern — darunter Qiwi Lisolet — arbeitete an den Stabilisierungs-Triebwerken des Felshaufens. Doch Blitzköpfe nicht gerechnet, kannten nur neun Leute die entscheidenden Geheimnisse. Und hier zwischen den Wachen konnten sie alles Notwendige tun, um die Hülse zu schützen.
Die Innenwände des Kälteschlaf-Lagers der Suivire waren herausgeschlagen und Dutzende von zusätzlichen Särgen installiert worden. Die ganze Wache A schlief hier, fast siebenhundert Leute. Wachschichten B und Div lagen auf der Brisgo-Lücke, C und D an Bord der Gemeinwohl. Doch es war die A-Wache, die nach dieser Zwischenzeit begann.
Ein rotes Licht erschien an der Wand; das eigenständige Datensystem des Kälteschlaf-Raums war kommunikationsbereit. Nau setzte seine Datenbrille auf, und plötzlich waren die Särge mit Namen und Zugehörigkeit beschriftet. Alles war im grünen Bereich. Der Seuche sei Dank. Nau wandte sich seinem Hülsensergeanten zu. Kal Omos Name, Status und Lebenskennzeichen schwebten in der Luft neben seinem Gesicht; das Datensystem nahm seine Pflichten sehr wörtlich. »Annes Medizinpersonal wird in ein paar tausend Sekunden hier sein, Kal. Lassen Sie sie nicht rein, bis Ritser und ich fertig sind.«
»Jawohl, Herr Hülsenmeister.« Ein leises Lächeln lag auf dem Gesicht des Mannes, als er sich umwandte und zur Tür hinausglitt. Kal Omo hatte das schon durchgemacht; er hatte an dem Schwindel mit der Ferner Schatz mitgewirkt. Er wusste, was zu erwarten war.
Und dann waren er und Ritser Brughel allein. »Also gut, haben Sie noch mehr faule Äpfel gefunden, Ritser?«
Ritser grinste; er hatte eine Überraschung in petto. Sie trieben an Reihen von Särgen vorbei, die Raumbeleuchtung strahlte unter ihren Füßen. Die Särge hatten eine Menge mitgemacht, doch sie funktionierten immer noch zuverlässig — zumindest die von der Dschöng Ho. Die Krämer waren schlau; sie funkten Technologie quer durch den Menschenraum — doch ihre eigenen Waren waren besser als das, was sie gratis zwischen die Sterne riefen. Doch jetzt haben wir eine Flottenbibliothek… und Leute, um sie zu verstehen.
»Ich habe meine Schnüffler hart arbeiten lassen, Hülsenmeister. Wache A ist ziemlich sauber, obwohl…« — er hielt inne und bremste sein Weitergleiten mit einer Hand am Regal. Die dünnen Streben bogen sich das ganze Regal entlang; das war wirklich ein Provisorium — »… obwohl ich nicht weiß, warum Sie aufwieglerische Taubnüsse wie den da behalten.« Er tippte mit seinem Hülsenmeisterstock an einen der Särge.
Die Krämersärge hatten breite, gebogene Fenster und Innenbeleuchtung. Selbst ohne die Beschriftung in der Datenbrille hätte Nau Pham Trinli erkannt. Irgendwie sah der Kerl jünger aus, wenn sein Gesicht leblos war.
Ritser hatte sein Schweigen wohl als Unschlüssigkeit gedeutet. »Er wusste von Diems Verschwörung.«
Nau zuckte die Achseln. »Natürlich. Vinh auch. Und noch ein paar. Und jetzt sind sie bekannte Größen.«
»Aber…«
»Vergessen Sie nicht, Ritser, wir sind übereingekommen: Wir können uns nicht mehr leisten, Leute beiläufig umzulegen.« Sein größter Fehler bei diesem ganzen Abenteuer waren die Verhöre unmittelbar nach dem Überfall gewesen. Nau war den Katastrophenstrategien der Seuchenzeit gefolgt, den harten Strategien, die vor dem Blick gewöhnlicher Bürger verborgen gehalten wurden. Doch die Ersten Hülsenmeister waren in einer ganz anderen Situation gewesen; sie hatten jede Menge Menschenmaterial. In dieser Situation… nun ja, bei den Dschöng-Ho-Leuten, die fokussiert werden konnten, war das Verhör kein Problem. Aber die anderen waren erstaunlich zäh. Und am schlimmsten, sie reagierten nicht rational auf Drohungen. Ritser war etwas verrückt geworden, und bei Tomas hatte nicht viel gefehlt. Sie hatten die letzten von den ranghohen Krämern getötet, ehe sie die Psychologie der anderen Seite wirklich verstanden hatten. Alles in allem war es ein ziemlich großer Reinfall gewesen, aber auch eine Erfahrung, an der sie gereift waren. Tomas hatte gelernt, wie man mit den Überlebenden umgehen musste.