Sogar der Tarnpersönlichkeit Trinlis konnte diese Analyse in die falsche Kehle kommen. Pham brauste auf: »Nimm zur Kenntnis, dass die Dschöng Ho seit Jahrtausenden in ihrer gegenwärtigen Form besteht, Silipan. Das spricht wohl kaum für ein Versagen.«
Silipan lächelte mit herzlichem Mitgefühl. »Ich weiß, dass das schwer zu akzeptieren ist, Trinli. Du bist ein guter Mann, und es ist richtig, loyal zu sein. Aber ich glaube, du wirst es noch verstehen. Die Krämer werden immer unter uns sein, ob sie nun in einer dunklen Seitengasse Schwarzhandel mit Essen betreiben oder zwischen den Sternen lauern. Diejenigen, die interstellare Raumfahrt betreiben, nennen sich eine Zivilisation, aber sie sind nur die Gischt, die sich an den Rändern wahrer Zivilisationen sammelt.«
Pham knurrte. »Ich glaube nicht, dass ich jemals solche Schmeicheleien und solche Beleidigungen auf einmal gehört habe.«
Alle lachten, und Trud Silipan schien zu glauben, sein Vortrag habe Trinli irgendwie freundlicher gestimmt. Pham beendete seine kleine Geschichte ohne weitere Unterbrechungen. Das Gespräch verlagerte sich auf Spekulationen über die Spinnenwesen der Arachna. Für gewöhnlich würde Pham diese Geschichten mit gut verhohlener Begeisterung verschlingen. Heute war sein Mangel an Aufmerksamkeit nicht gespielt. Sein Blick wanderte zurück zum Bartisch des Salons. Benny und Qiwi waren jetzt halb außer Sicht und stritten über irgendein Geschäft. Unter all dem Aufsteiger-Wahnsinn hatte Trud Silipan manches richtig erfasst. Im Laufe der letzten paar Jahre war der Untergrund hier aufgeblüht. Es war nicht die gewaltsame Subversion von Jimmy Diems Verschwörung. Im Denken der beteiligten Dschöng-Ho-Leute war es überhaupt keine Verschwörung, sondern nur die Fortführung der Geschäfte. Benny und sein Vater und Dutzende andere umgingen regelmäßig Festlegungen des Hülsenmeisters und verletzten sie sogar. Bisher hatte Nau sie nicht bestraft; bisher hatte der Dschöng-Ho-Untergrund die Situation für fast alle anderen verbessert. Pham hatte schon ein paarmal so etwas erlebt — wenn welche von der Dschöng Ho nicht wie freie Menschen Handel treiben konnten, nicht fliehen und nicht kämpfen.
Die kleine Qiwi Lin Lisolet stand im Mittelpunkt von alledem. Phams Blick ruhte staunend auf ihr. Einen Augenblick lang vergaß er, ein finsteres Gesicht zu machen. Qiwi hatte so viel eingebüßt. Nach manchen Ehrbegriffen hatte sie sich verkauft. Da war sie, Wache um Wache im Einsatz und in der Lage, mit allen möglichen Leuten Geschäfte zu machen. Pham verbarg das freundliche Lächeln, das sich auf seine Lippen stehlen wollte, und runzelte die Stirn. Wenn Trud Silipan oder Jau Xin jemals erfuhren, wie er für Qiwi Lisolet empfand, würden sie ihn für völlig verrückt halten. Wenn ein kluger Kopf wie Tomas Nau es je erfasste, könnte er eins und eins zusammenzählen — und das wäre das Ende von Pham Trinli.
Wenn Pham Qiwi Lisolet anschaute, sah er — mehr als je zuvor im Leben — sich selbst. Gewiss, Qiwi war weiblich, und Sexismus war eine von Trinlis Eigenarten, die nicht gespielt waren. Doch die Ähnlichkeit zwischen ihnen ging tiefer als das Geschlecht. Qiwi war — was, acht Jahre? — alt gewesen, als sie zu dieser Reise aufgebrochen war. Sie hatte fast ihre halbe Kindheit im Dunkel zwischen den Sternen verbracht, allein bis auf die Wartungswachen der Flotte. Und jetzt wurde sie in eine total unterschiedliche Kultur geworfen. Und immer noch hielt sie sich und stellte sich jeder neuen Herausforderung. Und sie war am Gewinnen.
Phams Gedanken richteten sich nach innen. Er hörte seinen Zechbrüdern nicht mehr zu. Er beobachtete nicht einmal Qiwi Lin Lisolet. Er erinnerte sich an eine Zeit, die über dreitausend Jahre zurücklag, drei Jahrhunderte seines eigenen Lebens.
Canberra. Pham war dreizehn gewesen, der jüngste Sohn von Tran Nuwen, dem König und Herrscher des ganzen Nordlandes. Pham war mit Schwertern und Gift und Ränken aufgewachsen, hatte in steinernen Burgen an einem kalten, kalten Meer gelebt. Zweifellos wäre er am Ende ermordet oder allenfalls König geworden, wenn das Leben auf mittelalterliche Weise weitergegangen wäre. Doch als er dreizehn war, wurde alles anders. Eine Welt, die von Flugzeugen und Radio nur Legenden besaß, wurde mit interstellaren Kauffahrern konfrontiert, der Dschöng Ho. Pham erinnerte sich noch an den schwarzen Fleck, den ihre Landefähren in den Großen Sumpf südlich des Schlosses gebrannt hatten. Binnen eines einzigen Jahres wurde Canberras Feudalpolitik auf den Kopf gestellt.
Die Dschöng Ho hatte drei Schiffe in die Expedition nach Canberra investiert. Sie hatte sich schwer verrechnet, hatte geglaubt, die Einheimischen wären bei ihrer Ankunft auf einem viel höheren technischen Niveau. Doch Tran Nuwens Reich konnte sie nicht einmal mit dem Nötigen zum Weiterflug versorgen. Zwei von den Schiffen blieben zurück. Der junge Pham flog mit dem dritten ab — ein verrückter Geiseltausch, den sein Vater für einen guten Schachzug gegenüber den Sternenfahrern hielt.
Phams letzter Tag auf Canberra war kalt und neblig. Die Reise von den Mauern der Burg hinab in die Sumpfniederung dauerte den größten Teil des Vormittags. Es war das erste Mal, dass er die gewaltigen Schiffe der Besucher aus der Nähe sehen durfte, und der kleine Pham Nuwen war außer sich vor Freude. Vielleicht hatte es in Phams Leben nie einen anderen Augenblick gegeben, da er so vieles falsch und umgekehrt verstand: Die Sternenschiffe, die aus dem Nebel emporragten, waren einfach Landefähren. Der hoch gewachsene, fremdartige Kapitän, der Phams Vater begrüßte, war in Wahrheit ein Zweiter Offizier. Respektvoll drei Schritte hinter ihm ging eine junge Frau, das Gesicht in kaum verhohlenem Unbehagen verzerrt — eine Konkubine? Eine Dienerin? Der wirkliche Kapitän, wie sich herausstellte.
Phams Vater, der König, gab ein Handzeichen. Der Erzieher des Jungen und seine mürrischen Diener führten ihn über den aufgeweichten Boden zu den Sternenleuten hin. Die Hände auf seinen Schultern hatten ihn fest im Griff, doch Pham bemerkte es nicht. Er schaute staunend empor und verschlang die ›Sternenschiffe‹ mit den Augen, versuchte den schwingenden Kurven jenes glänzenden Etwas zu folgen, das vielleicht Metall war. Auf einem Gemälde oder einem kleinen Schmuckstück hatte er solche Vollkommenheit gesehen — doch das hier war ein wahr gewordener Traum.
Sie hätten ihn an Bord der Fähre bringen können, ehe er den Verrat begriff, wäre nicht Cindi gewesen. Cindi Ducanh, eine mindere Tochter von Trans Vetter. Ihre Familie war wichtig genug, um bei Hofe zu leben, doch nicht so wichtig, dass sie eine Rolle gespielt hätten. Cindi war fünfzehn, die seltsamste, wildeste Person, die Pham je kennen gelernt hatte, so seltsam, dass er nicht einmal wusste, wie er sie nennen sollte — obwohl ›Freundin‹ durchaus genügt hätte.
Plötzlich war sie da, stand zwischen ihm und den Sternenleuten. »Nein! Es ist nicht recht. Es bringt nichts Gutes. Tut es nicht…« Sie hielt die Hände hoch, als wollte sie sie aufhalten. Von der Seite her hörte Pham eine Frau rufen. Es war Cindis Mutter, die ihre Tochter anschrie.
Es war so eine alberne, dumme, hilflose Geste. Phams Begleiter verhielten nicht einmal den Schritt. Sein Erzieher hieb Cindi in einem flachen Bogen seinen Schlagstock über die Beine. Sie stürzte hin.
Pham wandte sich um, versuchte ihr die Hand zu reichen, doch nun hoben ihn harte Hände hoch, hielten seine Arme und Beine fest. Der letzte Blick, den er von Cindi erhaschte, zeigte sie, wie sie noch immer zu ihm herblickte und versuchte, sich aus dem Schlamm zu erheben, ohne die Männer mit den Äxten wahrzunehmen, die auf sie zu liefen. Pham Nuwen erfuhr nie, wie viel es den einzigen Menschen gekostet hatte, der für ihn eingetreten war. Jahrhunderte später war er nach Canberra zurückgekehrt, reich genug, um den Planeten sogar in seinem neuerlich zivilisierten Zustand kaufen zu können. Er hatte die alten Bibliotheken durchforscht, die bruchstückhaften digitalen Aufzeichnungen der zurückgebliebenen Dschöng Ho. Er hatte nichts über die Nachwirkungen von Cindis Tat gefunden, nichts Sicheres in den Geburtenregistern von Cindis Familie von ihrer Zeit an. Sie war mitsamt dem, was sie getan und was es sie gekostet hatte, aus der Sicht ihrer Zeit einfach unerheblich.