Pham wurde hochgerissen, rasch vorwärtsgetragen. Einen Augenblick lang sah er seine Brüder und Schwestern, junge Männer und Frauen mit kalten, harten Gesichtern. Heute wurde gerade eine sehr geringfügige Drohung beseitigt. Die Diener machten kurz vor Phams Vater, dem König, Halt. Der alte Mann — ganze vierzig Jahre — starrte kurz auf ihn herab. Tran war immer eine ferne Naturgewalt gewesen, launisch hinter Reihen von Erziehern und rivalisierenden Erben und Höflingen. Seine Lippen waren in einer schmalen Linie herabgezogen. Einen Augenblick lang regte sich in den harten Augen vielleicht etwas wie Sympathie. Er fasste Pham an die Wange. »Sei stark, Junge. Du trägst meinen Namen.«
Tran wandte sich um, sprach Kauderwelsch zu dem Sternenmann. Und Pham war in der Hand der Fremden.
Wie Qiwi Lin Lisolet war Pham in die große Finsternis hinausgeworfen worden. Und wie Qiwi war Pham fehl am Platze.
An jene ersten Jahre erinnerte er sich deutlicher als an jede andere Zeit seines Lebens. Zweifellos hatte die Mannschaft vor, ihn auf Eis zu legen und beim nächsten Halt abzustoßen. Was soll man mit einem Kind anfangen, das glaubt, es gebe nur eine Welt, und die sei eine Scheibe, mit jemandem, der sein Leben damit zugebracht hat zu lernen, wie man mit einem Schwert herumhaut?
Pham Nuwen hatte eigene Pläne gehabt. Die Kälteschlaf-Särge hatten ihn zu Tode geängstigt. Kaum hatte die Reprise Canberra verlassen, als der kleine Pham aus der ihm zugewiesenen Kabine verschwand. Er war für sein Alter immer klein gewesen, und mittlerweile wusste er, was Überwachung aus der Ferne bedeutet. Er beschäftigte die Mannschaft der Reprise über vier Tage lang mit der Suche nach ihm. Am Ende verlor Pham natürlich — und ein paar sehr wütende Dschöng-Ho-Leute schleppten ihn vor den Gebieter des Schiffs.
Inzwischen wusste er, dass das die ›Dienerin‹ war, die er in der Sumpfniederung gesehen hatte. Doch obwohl er es wusste, konnte er es schwer glauben. Eine schwache Frau, die ein Sternenschiff und eine tausendköpfige Mannschaft befehligte (obwohl bald fast alle im Kälteschlaf lagen). Hmm. Vielleicht war sie die Konkubine des Besitzers gewesen, hatte ihn aber vergiftet und herrschte jetzt an seiner Stelle. Das war ein glaubhaftes Szenarium, doch dann war sie eine außerordentlich gefährliche Person. Tatsächlich war Sura Vizekapitän gewesen, die Anführerin der Fraktion, die gegen ein Verbleiben auf Canberra gestimmt hatte. Die Zurückbleibenden nannten sie ›übervorsichtige Feiglinge‹. Und nun waren sie auf dem Rückflug, dem sicheren Bankrott entgegen.
Pham erinnerte sich an ihren Gesichtsausdruck, als sie ihn schließlich erwischt und auf die Brücke gebracht hatten. Sie hatte böse auf den kleinen Prinzen herabgeschaut, einen Jungen, der noch immer in den Samt des Adels von Canberra gekleidet war.
»Du hast den Beginn des Wachzyklus verzögert, junger Mann.«
Die Sprache war für Pham fast unverständlich. Der Junge unterdrückte die Panik und die Einsamkeit und starrte ihr geradewegs ins Gesicht. »Meine Dame. Ich bin Eure Geisel, nicht Euer Sklave, nicht Euer Opfer.«
»Verdammt, was hat er gesagt?« Sura Vinh ließ den Blick zwischen ihren Leutnants schweifen. »Schau mal, Junge. Der Flug dauert sechzig Jahre. Wir müssen dich wegstecken.«
Die letzte Bemerkung drang durch die Sprachbarriere, doch sie klang zu sehr nach dem, was der Stallmeister sagte, wenn er im Begriff war, ein Pferd zu köpfen. »Nein! Ihr werdet mich nicht in einen Sarg stecken.«
Das wiederum verstand Sura Vinh.
Einer der anderen sagte plötzlich etwas zu Schiffsmeisterin Vinh. Vermutlich so etwas wie »Es ist egal, was er will, Kapitän.«
Pham spannte die Muskeln für das nächste vergebliche Handgemenge an. Doch Sura starrte ihn nur eine Sekunde lang an und schickte dann alle anderen aus ihrem Büro. Die beiden unterhielten sich etliche Kilosekunden lang in Kauderwelsch. Pham kannte Hofintrigen und Strategie, und keins von beidem schien hier geeignet zu sein. Ehe sie fertig waren, weinte der kleine Junge untröstlich, und Sura legte ihm den Arm um die Schulter. »Es wird Jahre dauern«, sagte sie. »Du verstehst das?«
»… J-ja.«
»Du wirst als alter Mann ankommen, wenn du dich nicht von uns in Kälteschlaf legen lässt.« Das Wort hatte immer noch seine unglückliche Wirkung.
»Nein, nein, nein! Lieber sterbe ich.« Pham Nuwen war jenseits aller Logik.
Einen Augenblick lang schwieg Sura. Jahre später erzählte sie Pham, wie sie die Begegnung erlebt hatte: »Nun ja, ich hätte dich auf Eis legen können. Das wäre klug und anständig gewesen — und es hätte mir eine Unmenge Probleme erspart. Ich werde nie verstehen, warum mich Dengs Flottenkomitee gezwungen hat, dich anzunehmen; sie waren kleinlich und vergnatzt, aber das war zu viel.
Da warst du also, ein kleines Kind, vom eigenen Vater verkauft. Es wäre doch schäbig gewesen, dich ebenso zu behandeln, wie er und das Komitee es getan hatten. Außerdem, wenn du den Flug auf Eis verbrachtest, wärst du bei der Ankunft in Namqem immer noch eine Null gewesen, in einer technischen Zivilisation hilflos. Warum dich also nicht aufbleiben lassen und versuchen, dir die Grundlagen beizubringen? Ich dachte mir, du würdest merken, wie lang die Jahre in einem Schiff zwischen den Sternen werden. In ein paar Jahren würden dir die Kälteschlaf-Särge nicht mehr gar so schrecklich vorkommen.«
Es war nicht einfach gewesen. Die Sicherheitsroutinen des Schiffes mussten umprogrammiert werden, um der Anwesenheit eines unverantwortlichen Menschenwesens gerecht zu werden. Es durfte keine unbemannten Zwischenwachen geben. Doch die Programmierung wurde erledigt, und etliche von den Wachmannschaften erklärten sich bereit, länger als normal aufzubleiben.
Die Reprise erreichte Staustrahlgeschwindigkeit, drei Zehntel Lichtgeschwindigkeit, und flog endlos durch die Tiefen.
Und Pham Nuwen hatte alle Zeit des Weltalls. Ein paar Besatzungsmitglieder — während der ersten paar Wachen Sura — taten ihr Möglichstes, um ihn zu unterrichten. Anfangs wollte er von alledem nicht wissen… doch die Zeit wurde lang. Er lernte Suras Sprache sprechen. Er lernte das Allgemeine über die Dschöng Ho. »Wir treiben Handel zwischen den Sternen«, sagte Sura. Die beiden saßen allein auf der Brücke des Staustrahlschiffes. Die Fenster zeigten eine symbolische Karte der fünf Sternsysteme, in denen die Dschöng Ho kursierte.
»Dschöng Ho ist ein Imperium«, sagte der Junge, während er hinaus auf die Sterne schaute und sich jene Gebiete im Vergleich zum Königreich seines Vaters vorzustellen versuchte.
Sura lachte. »Nein, kein Imperium. Keine Regierung kann sich über Lichtjahre hinweg behaupten. Verdammt, die wenigsten Regierungen halten sich länger als ein paar Jahrhunderte. Politik kommt und geht, doch der Handel geht immer weiter.«
Pham runzelte die Stirn. Sogar jetzt noch waren Suras Worte manchmal Unsinn. »Nein. Es muss ein Imperium sein.«
Sura stritt nicht. Ein paar Tage später ging sie auf Freiwache, lag tot in einem der seltsamen kalten Särge. Pham bettelte sie beinahe an, sich nicht umzubringen, und danach trauerte er Megasekunden lang über Wunden, von denen er nichts geahnt hatte. Nun gab es andere Fremde und endlose Tage der Stille. Schließlich lernte er Nese lesen.
Und zwei Jahre später kehrte Sura von den Toten zurück. Der Junge weigerte sich noch immer, auf Freiwache zu gehen, doch von diesem Punkt an war ihm alles willkommen, was sie ihm beibringen wollten. Er wusste, dass es hier Macht gab, die jedes Fürstentum auf Canberra weit übertraf, und nun hatte er begriffen, dass er womöglich über diese Macht gebieten würde. In zwei Jahren holte er auf, was ein Kind in der Zivilisation vielleicht in fünf lernte. Er hatte ein Talent für Mathematik; er konnte Dschöng-Ho-Programmschnittstellen des obersten und zweiten Niveaus benutzen.