Sie glitten mit etlichen Metern pro Sekunde abwärts; der Gegenverkehr war gerade spärlich. Das Licht am Grunde des Turms strahlte heller. »Ja, und was ist nun mit der Kreativität?« Das war etwas, worüber Trud mit Vorliebe dozierte.
»Sogar die, Pham. Na ja, natürlich nicht alle Arten von Kreativität. Wie gesagt, es besteht ein echter Bedarf an Verwaltern wie Rita und mir und an den Hülsenmeistern über uns. Aber du weißt Bescheid über wirklich schöpferische Menschen, die Künstler, die in euren Geschichtsbüchern landen? Fast immer sind es arme Schmalspur-Grübler, die nichts vom Leben haben. Er oder sie ist einfach total darauf fixiert, alles über ein einziges Thema zu lernen. Ein vernünftiger Mensch könnte es nicht rechtfertigen, Freunde und Familie einzubüßen, um sich so stark zu konzentrieren. Natürlich, der Lohn ist, dass der Grübler vielleicht etwas völlig Unerwartetes findet oder herstellt. Schau, auf diese Art ist ein wenig Fokus schon immer Teil der menschlichen Geschichte gewesen. Wir Aufsteiger haben dieses Opfer einfach institutionalisiert, sodass die ganze Gemeinschaft auf konzentrierte, organisierte Weise profitieren kann.«
Silipan streckte die Arme aus, berührte leicht die Wände zu beiden Seiten und bremste seinen Abstieg. Er blieb einen Moment zurück, bis auch Pham zu bremsen begann.
»Wie lange ist es bis zu deiner Verabredung mit Anne Reynolt?«, fragte Silipan.
»Gut eine Kilosekunde.«
»Gut, ich werde mich kurz fassen. Kann doch die Chefin nicht warten lassen.« Er lachte. Silipan schien für Anne Reynolt besonders wenig Respekt zu empfinden. Wenn sie unfähig wäre, wäre für Pham vieles einfacher…
Sie durchquerten eine Drucktür und kamen in einen Raum, der eine Krankenstation hätte sein können. Es gab ein paar Kälteschlaf-Särge; sie sahen so aus, als dienten sie kürzerem Aufenthalt zu medizinischen Zwecken. Hinter den Geräten zu sehen war eine andere Tür, diese trug ein spezielles Siegel des Hülsenmeisters. Trud warf einen nervösen Blick in diese Richtung und schaute nicht wieder hin.
»So. Hier ist der Ort, wo alles passiert, Pham. Die wirkliche Magie des Fokus.« Er zog Pham durch den Raum von der halb verdeckten Tür weg. Ein Techniker arbeitete neben der schlaffen Gestalt eines Blitzkopfes und manövrierte den Kopf des ›Patienten‹ in eins der großen Toroide, die den Raum beherrschten. Es hätten Bilddiagnose-Geräte sein können, obwohl sie noch klobiger aussahen als die meisten Apparate der Aufsteiger.
»Die Grundprinzipien kennst du schon, nicht wahr, Pham?«
»Klar.« Die waren während der ersten Wache nach der Ermordung Jimmy Diems sorgfältig erklärt worden. »Ihr habt dieses spezielle Virus, die Geistfäule; ihr habt uns alle infiziert.«
»Stimmt, stimmt. Aber das war eine militärische Operation. In den meisten Fällen ist die Fäule nicht durch die Hirnschranke gekommen. Doch wenn sie es tut… Du weißt Bescheid über Glia-Zellen? Davon hast du eigentlich viel mehr im Gehirn als Neuronen. Jedenfalls benutzt die Fäule die Glia-Zellen als eine Art Nährboden, infiziert sie fast alle. Nach vier Tagen oder so…«
»… ist man ein Blitzkopf?«
»Nein. Man hat das Rohmaterial für einen Blitzkopf; viele von der Dschöng Ho sind in diesem Zustand geblieben — unfokussiert, vollkommen gesund, aber mit der bleibend etablierten Infektion. Bei solchen Leuten liegt jede Nervenzelle im Hirn neben infizierten Zellen. Und jede von der Fäule befallene Zelle hat eine Auswahl von neuroaktiven Stoffen, die sie absondern kann. Dieser Bursche da…« Er wandte sich dem Techniker zu, der noch an dem im Koma liegenden Blitzkopf arbeitete. »Bil, weswegen ist der eigentlich hier?«
Bil Phuong zuckte die Achseln. »Er hat gekämpft. Al musste ihn lähmen. Dass die Geistfäule unkontrolliert ausbricht, ist ausgeschlossen, aber Reynolt möchte, dass seine Basal-fünf für eine Sequenz von…«
Die beiden wechselten Jargon. Pham blickte mit sorgfältigem Desinteresse auf den Blitzkopf. Egil Manhri. Egil war vor dem Flug der wortwitzigste Waffenführer gewesen. Doch jetzt… war er wahrscheinlich ein besserer Analytiker als je zuvor.
Trud nickt Phuong zu: »Hm. Ich verstehe nicht, wozu Herumpfuschen an Basal-fünf gut sein soll. Aber sie ist halt die Chefin, nicht wahr?« Er grinste dem anderen zu. »He, lass mich das mit dem machen, ja? Ich möchte es Pham zeigen.«
»Klar, wenn du den Empfang bestätigst.« Phuong machte ihnen den Weg frei und schaute leicht gelangweilt drein. Silipan glitt neben dem grau gestrichenen Toroid herab. Pham bemerkte, dass das Gerät getrennte Energiekabel hatte, jedes einen Zentimeter stark.
»Ist das eine Art Bilddiagnosegerät? Sieht aus wie steinalter Schrott.«
»Ha. Nicht direkt. Hilf mir, den Kopf dieses Burschen in die Halterung zu kriegen. Lass ihn nicht an die Seiten kommen…« Dann klang seine Stimme alarmiert. »Und um Himmels willen, gib Bil diesen Ring, den du trägst. Wenn du an der falschen Stelle stehst, reißen dir die Magneten in diesem Maschinchen den Finger ab.«
Selbst bei geringer Schwerkraft war es mühsam, den im Koma liegenden Egil Manhri zu manövrieren. Es war harte Arbeit, und die Gravitation des Felshaufens reichte gerade aus, um Egils Kopf auf die Unterseite des Lochs zu ziehen.
Trud trat von seinem Werk zurück und lächelte. »Alles fertig. Jetzt wirst du sehen, was Sache ist, Pham, mein Junge.« Er gab Befehle, und eine Art medizinisches Bild schwebte in der Luft zwischen ihnen, wohl eine Ansicht von Egils Kopf. Pham erkannte grobe anatomische Formen, doch das lag weit entfernt von allem, was er studiert hatte. »Mit dem Bild hast du Recht, Pham. Das ist gewöhnliche Magnetresonanz-Tomographie, alt wie die Zeit. Aber es genügt. Schau, die Basal-fünf-Harmonie wird hier erzeugt.« Ein Zeiger bewegte sich entlang einer komplizierten Kurve nahe der Oberfläche des Gehirns.
»Und jetzt kommt die hübsche Sache, die aus der Geistfäule mehr macht als nur eine neuropathische Kuriosität.« Eine Galaxis winziger glühender Punkte erschien in dem dreidimensionalen Bild. Sie leuchteten in allen Farben, obwohl die meisten rosa waren. Die Pünktchen bildeten Haufen und Bahnen, viele von ihnen flackerten in übereinstimmendem Rhythmus. »Du siehst die infizierten Glia-Zellen, zumindest die relevanten Gruppen.«
»Die Farben?«
»Die zeigen die gegenwärtige Drogenausscheidung je nach Typ… Also, was ich tun will…« — weitere Befehle, und Pham konnte den ersten Blick auf die Benutzeranleitung des Toroids werfen —, »ist, Ausstoßmenge und -frequenz entlang dieses Weges zu verändern.« Sein kleiner Zeiger glitt an einem der Lichtfäden entlang. Er grinste Pham an. »Und da ist unser Apparat mehr als ein Bildgerät. Schau, das Geistfäule-Virus produziert gewisse para- und diamagnetische Proteine, und die reagieren unterschiedlich auf Magnetfelder und lösen die Erzeugung spezifischer neuroaktiver Stoffe aus. Während ihr von der Dschöng Ho und die ganze übrige Menschheit den MRT nur als Beobachtungs-Gerätbenutzt, können wir ihn aktiv verwenden, um Änderungen vorzunehmen.« Er tippte auf seiner Tastatur; Pham hörte ein Knarren, als die supraleitenden Kabel sich voneinander wegspreizten. Egil zuckte ein paarmal. Trud streckte die Hand aus, um ihn zur Ruhe zu bringen. »Verdammt. Ich kriege keine Millimeterauflösung, wenn er zappelt.«
»Ich sehe keine Veränderung auf der Hirnkarte.«
»Kannst du auch nicht, bis ich den aktiven Modus abschalte. Man kann nicht gleichzeitig aufnehmen und modifizieren.« Er machte eine Pause, beobachtete die Schrittfolge im Anleitungsprogramm. »Fast fertig… Da! Gut, sehen wir uns die Änderungen an.« Es gab ein neues Bild. Und jetzt waren die glühenden Lichtfäden größtenteils blau und blinkten fieberhaft. »Es wird ein paar Sekunden dauern, bis es sich eingerenkt hat.« Er beobachtete beim Reden weiterhin das Modell. »Siehst du, Pham. Das ist es, was ich wirklich gut kann. Ich weiß nicht, womit du mich in deiner Kultur vergleichen könntest. Ich ähnle ein bisschen einem Programmierer, aber ich schreibe keinen Programmcode. Ich ähnle ein bisschen einem Neurologen, nur dass ich Ergebnisse bewirke. Ich denke, am ehesten gleiche ich einem Hardware-Techniker. Ich halte die Geräte in Gang — für alle weiter oben, die es sich zuschreiben.«