Und Reynolt selbst? Pham starrte ihr nachdrücklicher ins Gesicht, als er es sonst vielleicht gewagt hätte. Alles in allem war er an die zwanzig Kilosekunden in ihrer Gegenwart gewesen, und zwar bei Besprechungen, wo Reynolt für gewöhnlich am anderen Ende des Tisches saß. Sie kleidete sich immer einfach, abgesehen von diesem Silberhalsband, das unter ihre Bluse ging. Mit dem roten Haar und der bleichen Haut hätte die Frau Ritser Brughels Schwester sein können. Der physische Typus war in diesem Teil des Menschenraums selten und meist aus lokalen Mutationen hervorgegangen. Anne hätte dreißig Jahre alt sein können — oder bei wirklich guter medizinischer Versorgung ein paar Jahrhunderte. Auf verrückte, exotische Art war sie reizend. Körperlich reizend. Du also warst ein Hülsenmeister.
Reynolts Blick huschte hoch und nagelte ihn für einen Moment fest. »Gut. Sie sind hier, um mir die Einzelheiten über diese Orter zu erzählen.«
Pham nickte. Seltsam. Nach jenem kurzen Blick wandte sie die Augen von seinen. Sie beobachtete seine Lippen, seine Kehle. Es gab kein Mitempfinden, keine Kommunikation, doch Pham hatte das eisige Gefühl, dass sie alle seine Masken durchschaute.
»Gut. Welche Sensoren haben sie standardmäßig?«
Er murmelte sich durch die Antworten, täuschte Unkenntnis von Einzelheiten vor.
Reynolt schien es nicht übelzunehmen. Ihre Fragen stellte sie in einem gleichmäßig ruhigen, leicht abschätzigen Ton. Dann: »Das genügt nicht, um damit zu arbeiten. Ich brauche die Anleitungen.«
»Klar. Deswegen bin ich hier. Die kompletten Anleitungen sind in den Orterchips, verschlüsselt unterhalb von dem, was normale Techniker sehen dürfen.«
Wieder der lange, unstete Blick. »Wir haben nachgeschaut. Wir sehen sie nicht.«
Das war der gefährliche Teil. Im günstigsten Fall würden Nau und Brughel sich Trinlis Clownsmaske sehr genau ansehen. Im schlimmsten… Wenn sie begriffen, dass er Geheimnisse preisgab, die sogar hochrangige Waffenführer nicht kennen sollten, hätte er ernstlich Schwierigkeiten. Pham zeigte auf eine Datenbrille auf Reynolts Tisch. »Erlauben Sie«, sagte er.
Reynolt reagierte nicht auf seine Frivolität, doch sie setzte die Brille auf und erlaubte Gemeinbild-Darstellung. Pham fuhr fort: »Ich erinnere mich an den Passcode. Er ist allerdings lang…« — und die vollständige Version war auf seinen eigenen Körper geprägt, doch das sagte er nicht. Er versuchte es mit etlichen falschen Codes und verhielt sich irritiert und nervös, wenn sie versagten. Ein normaler Mensch, sogar Tomas Nau, hätte Ungeduld geäußert — oder gelacht.
Reynolt sagte nichts. Sie saß einfach da. Doch dann plötzlich: »Ich habe keine Geduld dazu. Täuschen Sie keine Unfähigkeit vor.«
Sie wusste es. Die ganze Zeit seit Triland hatte niemand jemals so weit hinter seine Tarnung geblickt. Er hatte gehofft, ihm bliebe mehr Zeit; wenn sie erst einmal anfingen, die Orter zu verwenden, konnte er sich eine neue Tarnung schreiben. Verdammt. Dann erinnerte er sich, was Silipan gesagt hatte. Anne Reynolt wusste etwas. Höchstwahrscheinlich war sie einfach zu dem Schluss gekommen, Trinli sei ein zögerlicher Informant.
»Entschuldigung«, murmelte Trinli. Er tippte die korrekte Zeichenfolge ein.
Eine einfache Bestätigung kam von der Flottenbibliothek, Sektion Chipdokumentation. Die Zeichen schwebten silbern in der Luft zwischen ihnen. Die geheimen Bestandsdaten, die Komponenten-Spezifikationen.
»Gut genug«, sagte Reynolt. Sie machte etwas mit ihrer Steuertastatur, und ihr Büro schien zu verschwinden. Die beiden schwebten durch die Bestandsinformation, und dann standen sie mitten in den Spezifikationen der Orter.
»Wie Sie sagten, Temperatur, Schall, Lichtniveaus… Multispektrum. Aber das ist ausgefeilter, als Sie es bei der Besprechung geschildert haben.«
»Ich habe gesagt, dass sie gut sind. Das hier sind nur die Einzelheiten.«
Reynolt sprach schnell, während sie Fähigkeit nach Fähigkeit durchsah. Jetzt klang sie fast begeistert. Das übertraf die entsprechenden Produkte der Aufsteiger bei weitem. »Ein nackter Orter mit guter Sensortechnik und unabhängigem Betrieb.« Dabei sah sie nur den Teil, den sie nach Phams Willen sehen sollte.
»Man muss ihnen aber Energieimpulse zuführen.«
»Auch gut. Auf die Weise können wir ihre Verwendung einschränken, bis wir sie gründlich verstehen.«
Sie schaltete das Bild weg, und sie saßen wieder in ihrem Büro, wo das Licht kühl von den rauen Wänden funkelte. Pham merkte, dass er zu schwitzen begann.
Sie schaute ihn nicht mehr an. »Die Bestandsliste hat etliche Millionen Orter zusätzlich zu den in die Flotten-Hardware eingebauten angezeigt.«
»Klar. Inaktiv passen sie in ein paar Liter.«
Ruhige Beobachtung: »Ihr wart Narren, dass ihr sie nicht für Sicherheitszwecke eingesetzt habt.«
Pham starrte sie finster an. »Wir Waffenführer wussten, was man mit ihnen anfangen kann. In einer militärischen Situation…«
Aber das waren nicht die Details in Anne Reynolts Fokus. Sie bedeutete ihm mit einer Handbewegung zu schweigen. »Es sieht so aus, als ob wir mehr als genug für unsere Zwecke hätten.«
Die schöne Janitscharin schaute Pham wieder ins Gesicht. Einen Moment lang stach ihr Blick direkt in seine Augen.
»Sie haben ein neues Zeitalter der Kontrolle möglich gemacht, Waffenführer.«
Pham blickte in die klaren blauen Augen und nickte; er hoffte, dass sie nicht vollends verstand, wie Recht sie hatte. Und jetzt begriff Pham, welche zentrale Stellung sie in all seinen Plänen einnahm. Anne Reynolt verwaltete fast alle Blitzköpfe. Anne Reynolt war Tomas Naus direkte Kontrolle über Operationen. Anne Reynolt wusste und verstand das von den Aufsteigern, was ein erfolgreicher Revolutionär wissen und verstehen musste. Und Anne Reynolt war ein Blitzkopf. Sie konnte herausfinden, was er vorhatte — oder sie konnte der Schlüssel sein, um Nau und Brughel zu vernichten.
In einem temporären Habitat wurde es nie völlig ruhig. Das Kauffahrer-Temp maß nur hundert Meter im Durchmesser, wenn man darin hin und her schnellte, entstanden Spannungen, die nicht völlig absorbiert werden konnten. Und die thermische Spannung erzeugte gelegentlich ein laut schnellendes Geräusch. Doch eben jetzt war die Mitte der Schlafperiode für den größten Teil der Mannschaft; Pham Nuwens kleine Kabine war annähernd so still, wie sie überhaupt sein konnte. Er schwebte in der abgedunkelten Kabine und tat so, als döse er vor sich hin. Sein geheimes Leben würde gleich auf vollen Touren laufen. Die Aufsteiger ahnten es nicht, aber sie waren eben in eine Falle gelaufen, die tiefer reichte, als die allermeisten Dschöng-Ho-Kapitäne wussten. Es war einer von zwei, drei Fallstricken, die Pham Nuwen vor langer Zeit ausgelegt hatte. Sura und ein paar andere hatten von ihnen gewusst, doch sogar nach der Brisgo-Lücke war das Wissen nicht ins allgemeine Arsenal der Dschöng Ho durchgesickert. Pham hatte sich immer darüber gewundert; Sura konnte raffiniert sein.
Wie lange würden Reynolt und Brughel brauchen, um ihre Leute in den Gebrauch der Orter einzuüben? Es gab mehr als genug von den Geräten, um die Stabilisierungsarbeiten bei L1 durchzuführen und ebenso alle Wohnräume zu überwachen. Bei der dritten Mahlzeit hatten ein paar von den Nachrichtenleuten etwas von Dornen am Hauptkabelstrang des Temps erzählt. Zehnmal pro Sekunde lief ein Mikrowellenimpuls durch das Temp — genug drahtlose Energie, um die Orter gut zu versorgen. Kurz vor Beginn der Schlafenszeit hatte er bemerkt, wie die ersten von den Staubkörnchen durch den Ventilator hereingeweht kamen. Jetzt eben waren Brughel und Reynolt wahrscheinlich dabei, das System zu eichen. Brughel und Nau würden sich zur Qualität von Ton und Bild gratulieren. Mit etwas Glück würden sie schließlich ihre eigenen plumpen Spionagegeräte ausmustern; selbst wenn er nicht so viel Glück hatte… nun ja, in ein paar Megasekunden würde er imstande sein, die Berichte von ihnen zu manipulieren.