In die Tische des Salons waren Namen von Leuten geritzt, die man vielleicht jahrelang nicht gesehen hatte, deren Wachen sich nicht mit der eigenen überschnitten. Das Bild über der Bar war eine ständig aktualisierte Kopie von Naus Wachplan. Wie bei den meisten Dingen benutzten die Aufsteiger die übliche Dschöng-Ho-Notation. Ein einziger Blick auf den Plan, und man sah, wie viele Megasekunden — objektive oder persönliche Zeit — es dauern würde, bis man eine bestimmte Person treffen konnte.
Während Ezrs Freiwache hatte Benny Zusätze am Wachplan angebracht. Jetzt zeigte er das aktuelle Spinnendatum, in Trixias Schreibweise: 60//21. Das einundzwanzigste Jahr der gegenwärtigen Spinnen-›Generation‹, welches der sechzigste Sonnenzyklus seit der Gründung irgendeiner Dynastie war. Es gab eine alte Redensart bei der Dschöng Ho: »Man merkt, dass man zu lange geblieben ist, wenn man anfängt, den Kalender der Einheimischen zu verwenden.« 60//21. Einundzwanzig Jahre seit dem Aufflammen, seit Jimmy und die anderen gestorben waren. Nach den Zahlen für Generation und Jahr kamen die Nummer des Tages und die Zeit nach Ladille-Art in ›Stunden‹ und ›Minuten‹, ein System auf der Basis von 60, das zu erklären die Übersetzer sich nie die Mühe gemacht hatten. Und jetzt konnten alle, die in die Bar kamen, diese Zeit so leicht lesen wie ein Dschöng-Ho-Chrono. Sie wussten auf die Sekunde genau, wann Trixias Vorstellung beginnen würde.
Trixias Vorstellung. Ezr biss die Zähne zusammen. Eine öffentliche Sklavenschau, und das Schlimmste war, dass niemand etwas dabei zu finden schien. Stück für Stück verwandeln wir uns in Aufsteiger.
Jau Xin und Rita Liao und ein halbes Dutzend andere Paare — darunter zwei von der Dschöng Ho — drängten sich um ihre üblichen Tische und plapperten darüber, was heute geschehen könnte. Ezr saß am Rand der Gruppe, fasziniert und abgestoßen. Heutzutage waren sogar manche von den Aufsteigern seine Freunde. Jau Xin zum Beispiel. Xin und Liao hatten viel von der moralischen Blindheit der Aufsteiger, aber sie hatten auch anrührende, menschliche Probleme. Und manchmal, wenn niemand anderes es bemerken konnte, sah Ezr etwas in Xins Augen. Jau war klug, hatte wissenschaftliche Neigungen. Ohne sein Glück in der Aufsteiger-Lotterie hätte seine Universitätszeit zum Fokus geführt. Die meisten Aufsteiger konnten sich gedanklich um solche Dinge herummogeln, Jau konnte es manchmal nicht.
»… solche Angst, dass es die letzte Sendung sein wird.« Rita Liao wirkte echt verzweifelt.
»Mach dir deswegen keine Gedanken, Rita. Wir wissen nicht einmal, ob es ein ernstes Problem ist.«
»Das garantiert.« Gonle Fong kam Kopf voran von oben herabgeschwebt. Sie verteilte ringsum Flaschen von ›Diamant und Eis‹. »Ich denke, die Blitzköpfe…« Sie warf einen entschuldigenden Blick auf Ezr. »Ich denke, die Übersetzer sind nun doch außer Tritt gekommen. Die Werbung für diese Sendung ergibt überhaupt keinen Sinn.«
»Nein, nein. Sie ist wirklich ganz klar.« Es war einer der Aufsteiger mit einer ziemlich guten Erklärung, worum es bei der ›Unzeit-Perversion‹ ging. Das Problem lag nicht bei den Übersetzern; das Problem betraf die menschliche Fähigkeit, das Bizarre zu akzeptieren.
›Die Kinderstunde der Wissenschaft‹ war die erste Sprachübertragung gewesen, die Trixia und die anderen übersetzt hatten. Schon den Ton den zuvor übersetzten schriftlichen Formen zuzuordnen. Die frühen Sendungen — vor fünfzehn objektiven Jahren — waren gedruckte Übersetzungen gewesen. Sie waren in Bennys Salon diskutiert worden, aber mit demselben abstrakten Interesse wie die neuesten Blitzkopf-Theorien über den EinAus-Stern. Im Laufe der Jahre war die Sendung an sich populär geworden. Aber irgendwann in den letzten fünfzig Megasekunden hatte Qiwi eine Vereinbarung mit Trud Silipan geschlossen. Alle neun oder zehn Tage wurden Trixia und die anderen Übersetzer ausgestellt, eine Live-Vorstellung. In dieser Wache hatte Ezr noch keine zehn Worte mit Qiwi gewechselt. Sie hat versprochen, sich um Trixia zu kümmern. Was sagt man zu jemandem, der solch ein Versprechen bricht? Selbst jetzt glaubte er nicht, das Qiwi eine Verräterin sei. Aber sie vögelte mit Tomas Nau. Vielleicht nutzte sie diese ›Position‹, um Dschöng-Ho-Interessen zu schützen. Vielleicht. Am Ende schien es alles Nau zum Vorteil zu gereichen.
Ezr hatte jetzt vier ›Vorstellungen‹ gesehen. Mehr als jeder normale menschliche Übersetzer, viel mehr als jedes maschinelle System ließ jeder Blitzkopf Gefühl und Körpersprache in die Übersetzung einfließen.
›Rappaport Grabber‹ war der Name der Blitzköpfe für den Moderator der Sendung. (Wo nehmen sie diese verrückten Namen her? Das fragten die Leute immer noch. Ezr wusste, dass die Namen größtenteils von Trixia kamen. Das war eins von den wenigen Dingen, über die er mit Trixia wirklich reden konnte, seine Kenntnis des Ersten Klassizismus. Manchmal fragte sie ihn nach neuen Wörtern. Eigentlich hatte Ezr vor Jahren den Namen ›Grabber‹ vorgeschlagen. Das Wort passte zu etwas, das er im Hintergrund dieses speziellen Spinns sah.) Ezr kannte den Übersetzer, der Rappaport Grabber spielte. Außerhalb der Vorstellung war Zinmin Broute ein typischer Blitzkopf, irritierbar, fixiert, unkommunikativ. Doch jetzt, als er als Spinn Rappaport Grabber auftrat, war er freundlich und schwatzhaft, jemand, der den Kindern geduldig Erklärungen gab… Es war, als sähe man einen Zombie, der für kurze Zeit von der Seele eines anderen belebt wurde.
Jede neue Wache sah die Spinnenkinder etwas anders. Schließlich gingen die meisten Wachen nur über einen fünfundzwanzigprozentigen Dienstzyklus; die Spinnenkinder lebten vier Jahre für jedes Jahr, das die meisten Raumfahrer lebten. Rita und ein paar von den anderen unternahmen es, sich Menschenkinder passend zu den Stimmen vorzustellen. Die Bilder waren über die Bildtapeten des Salons verstreut. Bilder imaginärer Menschenkinder mit den von Trixia gewählten Namen. ›Jirlib‹ war klein, mit zerzaustem schwarzem Haar und einem spitzbübischen Lächeln. ›Brent‹ war größer, sah aber nicht so großspurig wie sein Bruder aus. Benny hatte ihm erzählt, wie Ritser Brughel einmal die lächelnden Gesichter durch Bilder von echten Spinnen ersetzt hatte: langbeinig, skelettartig, gepanzert — Bilder von den Statuen, die Ezr bei seiner Landung auf der Arachna gesehen hatte, ergänzt mit niedrig auflösenden Aufnahmen von den Schnüffelsatelliten.
Brughels Vandalismus hatte keine Rolle gespielt; er verstand nicht, was sich hinter der Beliebtheit der ›Kinderstunde‹ verbarg. Tomas Nau verstand es offensichtlich und war vollkommen zufrieden, dass die Kunden in Bennys Biersalon das größte Personalproblem sublimieren konnten, mit dem sich sein kleines Reich konfrontiert sah. Mehr noch als die Dschöng-Ho-Expedition hatten die Aufsteiger erwartet, im Luxus zu leben. Sie hatten erwartet, es würde ständig zunehmende Ressourcen geben, dass daheim geplante Heiraten hier im EinAus-System zu Kindern und Familien führen konnten…
Jetzt war das alles vertagt. Unser eigenes Unzeit-Tabu. Paare wie Xin und Liao hatten nur ihre Zukunftsträume — und die Kinderworte und -gedanken aus der Übersetzung der ›Kinderstunde‹.
Noch vor den Live-Vorstellungen hatten die Menschen bemerkt, dass alle Kinder dasselbe Alter hatten. Jahr für Jahr der Arachna waren sie älter geworden, doch wenn neue Kinder in die Sendung kamen, hatten sie dasselbe Alter wie ihre Vorgänger. Die frühesten Übertragungen waren Vorträge über Magnetismus und statische Elektrizität gewesen, ganz ohne Mathematik. Später führten die Stunden Analysis und quantitative Methoden ein.