Gokna und Viktoria junior saßen hinten im Wagen, jede auf ihrem eigenen Gitter. Viktoria starrte durch das getönte Glas auf die Straßen von Weißenberg hinaus. Bei alledem fühlte sie sich ein wenig königlich. Sie drehte den Kopf verstohlen zu ihrer Schwester hin; vielleicht war Gokna ihre Zofe.
Gokna schniefte gebieterisch. Sie waren einander ähnlich genug, dass sie sicherlich dasselbe dachte — mit sich selbst als Großer Herrscherin. »Papa, wenn du heute die Sendung machst, warum kommen wir dann überhaupt mit?«
Papa lachte. »Oh, man kann nie wissen. Die Kirche des Dunkels glaubt, das Recht für sich gepachtet zu haben. Aber ich frage mich, ob ihre Sprecherin in der Debatte überhaupt irgendwelche Unzeit-Kinder kennt. Unter all der Entrüstung könnte sie sympathisch sein. Sie persönlich ist vielleicht nicht imstande, auf kleine Kinder Feuer zu spucken, nur weil sie nicht das richtige Alter haben.«
Das war möglich. Viktoria dachte an Onkel Hrunk, der die Idee ihrer Familie nicht ausstehen konnte — und sie gleichzeitig gern hatte.
Der Wagen fuhr durch volle Straßen, dann die Hauptstraße entlang, die zu den Hügeln mit dem Radiosender führte. Der Sender Weißenberg war der älteste in der Stadt — Papa sagte, er habe vor dem letzten Dunkel mit dem Sendebetrieb begonnen. Er war ein Militärsender gewesen. In dieser Generation hatten die Besitzer auf den ursprünglichen Fundamenten gebaut. Sie hätten ihre Studios in der Stadt einrichten können, aber sie pochten sehr auf ihre große Tradition. Also war die Fahrt zum Sender aufregend, wie sich die Straße um den Hügel wand, der der allergrößte war, sogar viel größer als derjenige, auf dem sie wohnten. Draußen lag noch Morgenreif auf dem Boden. Viktoria rückte auf Goknas Gitter herüber, und die beiden lehnten sich hinaus, um besser sehen zu können. Es war mitten im Winter und fast in den Mittleren Jahren der Sonne, doch erst zum zweiten Mal sahen sie Reif. Gokna stieß mit einer Hand Richtung Osten. »Schau, wir sind jetzt hoch genug — man kann die Zackenberge sehen!«
»Und es liegt Schnee darauf!« Diese Worte kreischten die beiden gleichzeitig. Doch das ferne Schimmern hatte wirklich die Farbe von Raureif. Es würde noch ein paar Jahre dauern, bis im Gebiet von Weißenberg der Erste Schnee fiel, selbst mitten im Winter. Wie würde es sein, durch Schnee zu gehen? Wie würde es sein, in eine Schneewehe zu fallen? Einen Augenblick lang erwogen die beiden die Fragen und vergaßen die anderen Ereignisse des Tages — die Rundfunkdebatte, die seit zehn Tagen aller Aufmerksamkeit beanspruchte, sogar die der Generalin.
Zuerst hatten alle Kupplinge und besonders Jirlib Angst vor dieser Debatte gehabt. »Das ist das Ende der Sendereihe«, sagte ihr älterer Bruder. »Jetzt weiß die Öffentlichkeit von uns.« Die Generalin war eigens vom Landeskommando heraufgekommen, um ihnen zu sagen, sie brauchten sich keine Sorgen zu machen, Papa würde sich um alle Einwände kümmern. Doch sie sagte nicht, dass sie ihre Radiosendung behalten würden. General Viktoria Schmid war es gewohnt, Truppen und Stabsoffizieren knappe Befehle zu erteilen. Kinder zu beruhigen, war nicht ihre starke Seite. Insgeheim dachten Gokna und Viktoria, dass diese Aufregung um das Programm Mama nervöser machte als alle Kriegsabenteuer, die in ihrer Vergangenheit lauerten.
Papa war der Einzige, der sich von der düsteren Stimmung nicht anstecken ließ. »Darauf habe ich die ganze Zeit gewartet«, sagte er zu Mama, als sie vom Landeskommando heraufkam. »Es ist höchste Zeit, an die Öffentlichkeit zu gehen. Diese Debatte wird eine Menge Dinge bloßlegen.« Das waren dieselben Ideen wie die, von denen Mama gesprochen hatte, doch aus seinem Mund klangen sie freudig. Die letzten zehn Tage über hatte er noch mehr als sonst mit ihnen gespielt. »Ihr seid meine Fachexperten für diese Debatte, also kann ich meine ganze Zeit mit euch verbringen und trotzdem getreulich meine Arbeit tun.« Er war missmutig hin und her gerutscht und hatte so getan, als mache er eine unsichtbare Arbeit. Den Babies hatte es gefallen, und sogar Jirlib und Brent schienen den Optimismus ihres Vaters zu akzeptieren. Die Generalin war am Abend zuvor nach Süden abgereist; wie üblich, hatte sie noch ganz andere Sorgen als Familienprobleme.
Der Gipfel des Rundfunkhügels lag über der Baumgrenze. Niedriger Stechginster bedeckte den Boden neben dem Parkkreis. Die Kinder stiegen aus und bestaunten die Kühle, die noch in der Luft lag. Klein Viktoria fühlte ein seltsames Brennen in all ihren Atemwegen, als ob… als ob sich dort Reif bildete. War das möglich?
»Kommt, Kinder! Gokna, glotz nicht!« Papa und seine älteren Söhne geleiteten sie die breiten alten Stufen zum Sender hinauf. Der Stein war feuerbehandelt und unpoliert, als wollten die Besitzer die Leute glauben machen, sie verträten eine uralte Tradition.
Die Wände innen waren mit Photo-Eindrücken behängt, Porträts der Besitzer und der Erfinder des Radios (in diesem Falle ein und derselben Leute). Außer Rhapsa und Hrunk waren alle schon hier gewesen. Jirlib und Brent machten das Radioprogramm seit Jahren, nachdem sie es von den Rechtzeit-Geborenen übernommen hatten, als Papa die Rechte an dem Programm gekauft hatte. Beide Jungen klangen älter, als sie wirklich waren, und Jirlib war so klug wie die meisten Erwachsenen. Anscheinend hatte niemand ihr wahres Alter geahnt. Papa war deswegen ein wenig irritiert gewesen. »Ich möchte, dass die Leute die Wahrheit selber erraten — aber sie sind zu dumm, um sich die Wahrheit vorzustellen!« Also waren schließlich Gokna und Viktoria junior ins Programm genommen worden. Das war spaßig gewesen — so zu tun, als seien sie Jahre älter, auf die albernen Skripte einzugehen, die sie in dem Programm verwendeten. Und Herr Grabber war nett gewesen, obwohl er kein richtiger Wissenschaftler war.
Trotzdem hatten Gokna und Junior noch beide sehr kindlich klingende Stimmen. Schließlich hatte jemand seinen Glauben an die Grundanständigkeit aller Radiosendungen überwunden und erkannt, dass da dem Publikum schwer wiegende Perversionen untergejubelt wurden. Aber Radio Weißenberg war im Privatbesitz, und wichtiger noch: Der Sender besaß seinen eigenen Wellenbereich und hatte Überstrahlrechte auf den Nachbarfrequenzen. Die Eigentümer waren Kupps aus der 58. Generation, die noch auf ihr Geld sahen. Solange die Kirche des Dunkels keinen wirksamen Zuhörerboykott zu Stande brachte, würde Radio Weißenberg ›Die Kinderstunde der Wissenschaft‹ beibehalten. Daher die Debatte.
»Ah, Dr. Unterberg, wie schön, Sie zu sehen!« Madame Subtrime kam aus ihrem Käfterchen geschwebt. Die Direktorin des Senders schien aus lauter Beinen und spitzen Händen zu bestehen, der Körper kaum größer als ihr Kopf. »Sie glauben gar nicht, welches Interesse diese Debatte ausgelöst hat. Wir übertragen bis zur Ostküste und auch auf Kurzwelle. Ich sage Ihnen ohne Übertreibung, wir haben Zuhörer von überall!«
Ich sage Ihnen ohne Übertreibung… Außer Sicht der Direktorin bewegte Gokna ihre Mundteile im Rhythmus der Worte. Viki wahrte einen sittsamen Ausdruck und tat so, als sähe sie nichts.
Papa neigte kurz den Kopf vor der Direktorin. »Es freut mich, dass ich so populär bin, Madame.«
»Ja, wirklich! Manche von unseren Sponsoren bringen sich gegenseitig um, um Werbezeit in dieser Sendung zu bekommen. Bringen sich einfach um!« Sie lächelte den Kindern zu. »Ich habe dafür gesorgt, dass ihr vom Kontrollraum aus zusehen könnt.«
Sie wussten alle, wo das war, folgten ihr aber gehorsam und hörten ihrem endlosen Wortschwall zu. Keins von ihnen wusste, was Madame Subtrime wirklich von ihnen hielt. Jirlib behauptete, sie sei nicht dumm, unter all dem Gerede lauere eine kalte Registrierkasse. »Sie weiß auf den Zehntelpfennig genau, wie viel sie für die alten Kupps verdienen kann, indem sie das Publikum in Rage bringt.« Das mochte sein, aber Viki mochte sie trotzdem und verzieh ihr sogar das schrille und dumme Gerede. Gar zu viele Leute waren in ihrem Glauben so festgefahren, dass nichts sie davon abbringen konnte.