Выбрать главу

Herbert W. Franke

Einsteins Erben

Phantastische Bibliothek

suhrkamp

taschenbuch

»Einsteins Erben« zeigt, wie sehr der Physiker und Schriftsteller Herbert W. Franke sich auskennt in Cyberspace und virtuellen Welten. Wie sehr er es versteht, Spannung in Nachdenklichkeit münden zu lassen. Was passiert, wenn die von Menschen missbrauchte Wissenschaft zur Entmenschlichung führt?

suhrkamp taschenbuch Z587

Redaktion und Beratung: Franz Rottensteiner

Ypsilon minus erschien 1976 als st 358,

Zone Null 1980 als st 585 und

Einsteins Erben 1980 als st 603.

Umschlag: Hans-Jörg Brehm

suhrkamp taschenbuch 2587

Erste Auflage 1996

© 1976, 1980 Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main

Suhrkamp Taschenbuch Verlag

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das des öffentlichen Vortrags, der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen sowie der Übersetzung, auch einzelner Teile.

Satz: IBV Satz- und Datentechnik, Berlin

Druck: Nomos Verlagsgesellschaft, Baden-Baden

Printed in Germany

Umschlag nach Entwürfen von

Willy Fleckhaus und Rolf Staudt

Ebook by *MM*

1 2 3 4 5 6 – 01 00 99 98 97 96

Der Author

Herbert W. Franke, 1927 in Wien geboren, studierte Physik, Mathematik, Chemie, Psychologie und Philosophie. Er promovierte an der Universität Wien mit einem Thema aus der theoretischen Physik zum Doktor der Philosophie. Seit 1957 ist er freier Schriftsteller. Seine ersten Science-fiction-Geschichten publizierte er in den Jahren 1953 und 1954 in der Wiener Kulturzeitschrift Neue Wege. Weitere Veröffentlichungen: Der grüne Komet, 1960; Das Gedankennetz, 1961; Der Orchideenkäfig, 1961; Die Glasfalle, 1962; Die Stahlwüste, 1962.; Der Elfenbeinturm, 1965; Zone Null, 1970; Einsteins Erben, 1972; Ypsilon minus, 1976; Zarathustra kehrt zurück, 1977; Sirius Transit, 1979; Schule für Übermenschen, 1980; Paradies 1000, 1981; Endzeit, 1985; Hiobs Stern, 1988, u. a.; 1980 wurde Franke zum Mitglied des Deutschen PEN-Clubs gewählt. Im selben Jahr wurde ihm der Berufstitel Professor verliehen, 1988 wurde er als korrespondierendes Mitglied in die Europäische Akademie der Wissenschaften, der Künste und der Literatur berufen.

Herbert W. Franke

Einsteins Erben

Ypsilon minus

Zone Null. Roman

Einsteins Erben

Phantastische Bibliothek

Band 336

Ypsilon minus

1.

Dieser Tag unterschied sich durch nichts von tausend anderen Tagen.

Um sechs Uhr früh Wecken. Das übliche Gedränge im Waschraum. Das Anstellen um das Frühstücksgeschirr, um die Synthese-Milch, um Brot und Marmelade.

Der Vormittag: Gymnastik. Psycho-Training. Unterricht. Die Privatstunde von elf bis zwölf hatte Ben Erman benutzt, um seinen Berechtigungsschein für die Benutzung der Mikrofilmbibliothek erneuern zu lassen und einen Antrag auf einen neuen Overall zu stellen.

Zwölf Uhr bis vierzehn Uhr: Anstellen um das Essen. Wieder einmal hatte er ein Randstück vom Algenbrot bekommen – so hart, daß er erst gar nicht versuchte, es zu zerlegen. Er warf es mit den Papiertellern und dem Plastikbesteck in den Müllschlucker.

Die Fahrt mit der Hängebahn … sie war eine Zäsur in seinem Tagesablauf – zwischen der Individual- und der Sozialarbeit. Und sie war ein kurzer Zeitabschnitt ohne Aufgabe, ohne Verpflichtung. Er saß in seiner Ein-Mann-Kabine – allein –, blickte von hoch oben auf die Straßen mit ihren Laufstegen und Schwebezügen, mit den durcheinanderströmenden Menschenmassen … Von hier sah es aus, als wäre eine träge wirbelnde Flüssigkeit zwischen Mauern eingeschlossen. Die Luft in der Kabine war gut – Ben brauchte sein Atemfilter nicht zu benutzen. Vielleicht war das der Grund, daß er sich in diesen Minuten immer wie befreit vorkam – als wäre er nicht selbst ein Teil dieser ruhelosen Stadt.

Vierzehn Uhr: Beginn des vierstündigen Arbeitstags.

Ben Erman War Rechercheur in der Computerzentrale – ein Posten, der nur Angehörigen der R-Kategorie zustand.

Auch jetzt noch wies nichts auf die Besonderheit, des Tages hin. Ben setzte sich auf seinen Rollstuhl, ließ den Hebel der Stromversorgung nach rechts klicken und tastete seine Kennummer ein: 33-78568700-16 R. Ein rotes Lämpchen leuchtete auf. Ben wartete einige Sekunden lang, dann erschien ein Schriftzug auf dem elektronischen Leuchtschirm: Die Verbindung zur Arbeitseinheit war hergestellt, das Interaktionssystem stand bereit. Zugleich erschienen rechts oben die rasch wechselnden Ziffern der elektronischen Kontrolluhr, die die Rechenzeit und den Rechenwert überwachte. Ben rief die Resultate des letzten Tages ab und wandte sich dann jenen Punkten zu, die er noch nicht berücksichtigt hatte: den Ergebnissen der medizinischen Untersuchungen und psychiatrischen Tests, den Listen der Medikamente und Drogen – soweit sie offiziell zugeteilt worden waren –, der Zahl der Fremdkontakte mit Personen außerhalb des eigenen Wohnblocks, dem Freizeitverhalten usw.

Bisher hatte es nicht schlecht um den Prüfling gestanden. Die Ergebnisse waren nicht besser und nicht schlechter als bei tausend anderen, die er überprüft hatte. Eine Kategorie hinauf oder hinunter … gewiß: wichtige Entscheidungen für den Betroffenen, doch für die Statistik bedeutungslos!

Dann aber sank die Kennzahl der integralen Bewertung rapide. Schon die Antworten auf den Fragebogen für die regelmäßigen psychologischen Prüfungen zeigten einen deutlichen Abfall. Auch die Aussagen, die er in den obligatorischen Stunden der Selbstkritik gemacht hatte, ergaben überraschend niedrige Werte, als er sie nach dem sozialen Schlüssel auswertete. Einen niederschmetternden Eindruck machte schließlich die Auflistung der Fernsehsendungen und Filme – hier ergab sich ganz deutlich eine Bevorzugung der aus Testzwecken in die Programme eingebauten negativen Archetypen in einem ganz bestimmten Sinn, nämlich in Richtung auf destruktive Elemente. Bevor sich Ben der nächsten Qualifikationsgruppe zuwandte, schaltete er auf grafische Ausgabe um. Noch befand sich der rote Punkt hoch über dem Strich, der die Y- und die Z-Kategorien trennte. Aber es war unverkennbar, daß er sich ihm mehr und mehr näherte.

In diesem Moment legte sich eine Hand auf Bens Schulter.

»Hallo, Ben!« Es war Olf Peman, Bens Nachbar aus der Arbeitsnische links von ihm.

Olf warf nur einen Blick auf den Bildschirm … »Donnerwetter! Ein interessanter Fall – warum rufst du uns nicht?«

Olf lief aus Bens Nische, doch – wie zu erwarten war –nur, um die anderen Mitarbeiter der Abteilung heranzuholen.

Im stillen ärgerte sich Ben darüber – er hätte diesen Fall lieber noch eine Weile allein bearbeitet, um ganz sicher zu sein … Noch stand keineswegs fest, daß die Bewertungskurve weiter absinken würde. Einige weitere Qualifikationswerte, und alles könnte sich als blinder Alarm herausstellen.

Und andererseits: Ben hatte es nie leiden können, wie die Ypsilon-minus-Fälle von der Belegschaft behandelt wurden. Gewiß, es handelte sich um Entartete, um heimliche Außenseiter, die aus der Gesellschaft eliminiert werden mußten. Und doch – konnte man hier von Absicht oder Schuld sprechen? War es nicht vielmehr ein Schicksal, das sich aus welchen Gründen auch immer auf irgendeinen von ihnen richtete – das zu tragisch war, als daß man die letzten Entscheidungen, das letzte Urteil wie einen sportlichen Schiedsspruch erwarten und feiern durfte?