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Doch nun war es zu spät – aus allen Kabinen strömten die Rechercheure, die Statistiker, die Analytiker und drängten sich um ihn.

Es kostete ihn Mühe, konzentriert weiterzuarbeiten – immerhin hing das Schicksal eines Menschen von seiner Aufmerksamkeit ab; ein Irrtum wäre – selbst wenn er später vom Computer korrigiert worden wäre – ärgerlich und blamabel. Er hatte noch nie einen Ypsilon-minus-Fall gehabt – ebensowenig wie viele seiner Kollegen, die zum Teil schon länger als er in der Abteilung waren. Und was könnte es jetzt für sie alle Amüsanteres geben, als daß er sich zu verrechnen begann, daß er unsicher wurde, daß er sich als unfähig herausstellte …

Ben rechnete jetzt langsamer, doch es war ihm gelungen, sich zu konzentrieren. Trotz der Stimmen hinter ihm, des Geflüsters, der Ratschläge von jenen, die es besser wissen wollten, blieb er ruhig und nahm sich eine Qualifikation nach der anderen noch einmal vor: die Resultate des programmierten Unterrichts, das Kontaktregister, das Freizeitverhalten, die Fluktuationen während der Ferienzeit …

Selbstverständlich würden sich die Ärzte und Psychologen, die Verhaltensforscher und Soziologen, die Organisatoren und Kontrolleure mit dem Fall beschäftigen. Sie würden herauszufinden versuchen, an welcher Stelle ein faux pas passiert war – in der genetischen Konditionierung, in den psychologischen Programmen des Unterrichts, in der Verhaltensorganisation, in der zur allgemeinen Verwendung freigegebenen Information oder in unerwünschten Fehleinflüssen des Freizeitangebots. Dabei handelte es sich aber lediglich um Erklärungsversuche und nicht um eine Revision; die Entscheidung war längst getroffen. Es ging um Vorkehrungen für die Zukunft, um die Verhinderung weiterer ähnlicher Fälle, um eine Vervollständigung der Kontroll- und Überwachungsmaßnahmen. Damit hatte er, Ben, nichts mehr zu tun. Er war Rechercheur und kein Organisator. Eigentlich brauchte ihn ein solcher Fall nicht zu berühren; für ihn bedeutete er nicht mehr als Zahlen und Symbole auf Leuchtschirmen, sinnvoll im Dienst der Sozietät verbrachte Arbeitszeit, vielleicht einen Pluspunkt in seinem beruflichen Werdegang, eine Prämie, vielleicht gar eine Neueinstufung?

Ben kam zu den letzten Qualifikationen. Das Gemurmel hinter ihm wurde leiser, die Spannung wuchs. Und als der rote Punkt dann endgültig unter der waagerechten Trennlinie verschwand, ging ein Ächzen durch den Raum, und dann jubelten sie, klatschten, schlugen sich gegenseitig auf die Schultern. Nur Ben saß wie erstarrt auf seinem Stuhl, und obwohl sie ihm die Hände drückten und ihm gratulierten, war er wie durch eine Mauer von ihnen getrennt, er bemühte sich, zu verstehen, was geschehen war, fragte sich, welchen Anteil er eigentlich daran hatte und wieso ihm Glückwünsche zukamen. Er starrte auf den Schirm, auf dem jetzt die zusammenfassenden Ergebnisse der einzelnen Qualifikationsbereiche aufgelistet wurden, bis schließlich, gewissermaßen als Summe eines Lebens, das unumstößliche Resultat erschien: y-.

Grundsatzreferat zur Geschichtsphilosophie

Wie die statistische Analyse beweist, greifen in historische Entwicklungen oft Zufallsprozesse ein, die die Abläufe in unkontrollierbare Bahnen lenken. Auf diese Weise kam es vor der Stunde Null oft zu nicht vorhersehbaren Situationen, die die Entscheidungsträger vor unlösbare Aufgaben stellten. Die Lösungsversuche beschränkten sich meist auf passives Reagieren, auf Aktionen von lediglich kurzfristigem Einfluß. Deren Effektivität wurde bald durch weitere Zufallsereignisse gemindert, vage Ansätze zur gesellschaftlichen Besserstellung fielen den zunehmenden Turbulenzen zum Opfer. Der Mensch war lediglich Werkzeug der Geschichte, aber nicht ihr Gestalter. Durch den Zustand hochgradiger Unordnung war seine Freiheit erheblich eingeschränkt.

Die geschilderte Situation ist typisch für die archaische Gesellschaft vor der Stunde Null. In unserem Staat der Einheitlichkeit und der Ordnung müssen entropische Einflüsse aus der Geschichte eliminiert werden. Daraus folgt die Notwendigkeit einer präzisen Planung historischer Abläufe, die durch eine hochentwickelte elektronische Simulationstechnik möglich geworden ist. Wir unterscheiden die zwei Programme KURZHIST und LANGHIST für kurzfristige und langfristige Planung. In der kurzfristigen Planung werden nicht nur die gewünschten Entwicklungen – soziologische Relevanzen, bildungstechnische Maßnahmen, medizinische Betreuung, psychologisches Training usw. – im Detail ausgearbeitet, sondern auch die dafür nötigen Eingriffe. Die angezeigten Maßnahmen werden in der allgemein verständlichen Sprache SIMPLON ausgegeben. Sie werden nach dem Programm VARIATORFAKT über das Kommunikationssystem SELEKTOR verteilt und den Angehörigen der operativen Klassen A und B übermittelt. Die langfristige Planung beschränkt sich vorderhand auf die Ausarbeitung von Zielvorstellungen und ihre Gewichtung nach den verfügbaren Ressourcen. Auf Detailanweisungen zur Durchführung wird vorderhand verzichtet, doch ist eine sukzessive Erweiterung der Kurzfristprogrammierung in den Langfristbereich vorgesehen.

Die Erkenntnis einer fehlerhaften Entwicklung der Geschichte erfordert auch Maßnahmen zu ihrer Korrektur. Philosophische Grundlage dazu ist das informationspositivistische Prinzip der Realität: Die Wirklichkeit ist die Summe aller korrelierbaren Informationen. Dem Institut für historische Planung ist deshalb eine Abteilung für Geschichtskorrektur angefügt. Sie hat die Aufgabe, die historischen Tatbestände neu festzulegen, und zwar so, daß sie den logisch-kausalen Hintergrund der modernen Geschichte bilden. Auf diese Weise sollte es gelingen, alle dunklen Punkte aus unserem Weltbild zu entfernen, die heute noch an eine düstere Vergangenheit erinnern und die Psyche der Bürger belasten. Der vollkommene Staat braucht auch eine vollkommene Geschichte.

2.

Bens Arbeitstag neigte sich dem Ende zu. Zwei Stunden, achtundvierzig Minuten und drei Sekunden Rechenzeit hatte er benötigt, um den Nachweis zu führen, daß einer von ihnen in ihrer Gemeinschaft nichts mehr zu suchen hatte. Die Pause nach dem Erreichen des Ziels war nur kurz gewesen – sie alle hatten ihr Soll zu erfüllen. Sie hatten sich gegenseitig Pharmadrops angeboten und Olf hatte aus dem Schrank, in dem die Kassetten mit den Magnetbändern lagen, eine Flasche Fitness-Sekt geholt – sie waren alle gut gestimmt, als sie seine Kabine verließen. Auch Ben fühlte die künstliche Hochstimmung, die Energie, die das Getränk freigesetzt hatte, aber es fehlte die Gelegenheit, sie angemessen zu verwenden. Ihm blieben nur noch fünfzehn Minuten, um die verlorene Zeit wenigstens zum Teil aufzuholen, und so wandte er sich seinem nächsten Fall zu. Er stellte die Verbindung mit dem Speicher her und rief die Kenndaten und Codezahlen ab. Nur Bruchteile von Sekunden später lagen ihm alle nötigen Angaben vor, und er griff schon nach dem Xerox-Duplikator, als er gewahr wurde, welche Kennzahl da stand: 33-78568700-16 R. Er blickte noch einmal hin – ein Irrtum der Maschine? – was konnte es anderes sein! Er bat um Überprüfung und Korrektur … einige Sekunden Wartezeit, dann die Antwort: korrekte Angabe – und wieder die Zahclass="underline" seine Zahl!

An diesem Abend arbeitete Ben nicht mehr. Es hatte einige Zeit gedauert, bis er verstand, doch dann mußte er es sich selbst bekräftigen: Er hatte den Befehl erhalten, sich selbst zu überprüfen.

Dieser Fall war so unerwartet und ungewöhnlich, daß Ben einige Zeit hindurch nicht imstande war, etwas zu tun. Eine Überprüfung – das mußte noch nicht unbedingt etwas Negatives bedeuten; oft genug wurden Personen durch den Zufallsgenerator ausgewählt und durch die Mühlen der Kontrolle gedreht. In solchen Fällen hatte sich allerdings noch nie eine Abweichung ergeben. In der Mehrzahl der Fälle aber bestand begründeter Verdacht; und meist war dann, wie die Berechnungen erwiesen, auch eine Rückstufung unvermeidlich. Als er daran dachte, lief es ihm kalt über den Rücken. Er war sich darüber im klaren, daß es ausnahmslos jeden treffen konnte. Jeder konnte Verdacht erregen, und meist gab es auch Gründe dafür. Freilich war es für die meisten schwer, diese Gründe festzustellen – wenn sich ihnen diese Gelegenheit überhaupt bot. Einige falsche Antworten bei den Befragungen, eine ungünstige Auswahl des Lesestoffs oder der Spielpartner, Verdachtsmomente durch ungewöhnliche Reaktionen beim Psychotraining und so fort … aber all das konnte bei ihm kaum zutreffen, denn er wußte genau, bei welchen Gelegenheiten man Gefahr lief, sich eine Blöße zu geben. Für jeden Kriminalfilm, den er sich ansah, tippte er zwei oder drei historische oder soziale Sendungen ein – selbst wenn er die Stunden dann in den letzten Reihen : dösend verbrachte. Und jeden Kontakt mit dem leichtsinnigen Rex Oman, seinem Freund, kompensierte er durch Unterhaltungen mit seinem Psychotrainer oder mit einem der Gruppenersten. Ben konnte sich nicht vorstellen, wodurch er Verdacht erregt haben könnte.