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Er rief die erste Qualifikation auf – Routineüberprüfung. Daten aus dem genetischen Programm, aus den Erziehungsprotokollen, aus den Psycholehrgängen – Resultate der Prüfungen, Ja-Nein-Antworten auf gestellte Fragen, Kreuze in viereckige Felder, gestanzte Löcher oder nicht markierte Besetzungsstellen … In diesen Symbolen lag sein Ich verschlüsselt, das war er mit seiner physischen und psychischen Existenz, mit seinen Verhaltensweisen und Routinen, mit seinem Antriebsmuster und seinen Motivationen, mit seinen Vorzügen und Schwächen. … Wieder schreckte er aus seinen Gedanken auf, gab die Daten in den Speicher, ließ sie summieren und integrieren, subtrahieren und differenzieren, ordnen und vergleichen, wieder ausschreiben und bewerten.

Was sich dabei ergab, war Durchschnitt – in keiner Weise bemerkenswert. Das war nicht gerade erfreulich, denn insgeheim hielt sich Ben wie so viele andere doch für etwas Besonderes, eher ein Individuum als repräsentativer Querschnitt der normierten Gesellschaft. Andererseits war das Ergebnis beruhigend. Vielleicht hatten auch die Tabletten ihre Wirkung getan, aber diese Zahlen sprachen für sich: Hier gab es nichts daran zu rütteln – sie entsprachen durchaus seiner Einordnung in die R-Klasse und deuteten nicht im geringsten auf eine Veränderung und schon gar nicht auf eine Abklassifizierung hin.

Als zweites ging Ben die medizinischen Daten durch. Hier war alles vermerkt: seine Klon-Gruppe, seine Geburtsdaten, sein Wachstumskoeffizient, seine Impfungen und Immunisierungen, die Fluorierung seiner Knochen und Zähne, die Pigmentierung seiner Haut. Seine Kinderkrankheiten waren ebenso aufgezeichnet wie alle kleineren Unfälle im Heim und auf der Straße – vom abgerissenen Fingernagel bis zum aufgeschlagenen Knie. Die Medikamente, die man ihm verabreicht hatte, waren ebenso angeführt wie die Mengen von Watte und Heftpflaster, die ihm zugeteilt worden waren. Nach Beendigung der Aufbauphase, mit zweiundzwanzig Jahren –, und das bedeutete gleichzeitig das Ende der Konditionierung – traten kaum noch Krankheiten auf. Er war gesund, und wieder erinnerte er sich daran, daß die Genugtuung darüber nicht die war, die man einem Fremden gegenüber aufbringt. Daran war nichts zu ändern: Er war es selbst, den er untersuchte, und was dabei herauskam, war ihm prinzipiell nicht gleichgültig.

Auch die medizinische Qualifikation hatte zu keinem ungewöhnlichen Ergebnis geführt. Es steckte kein heimliches Leiden in ihm, das sich im Laufe der obligatorischen Gesundheitsuntersuchungen angedeutet und ihn aus den Reihen der Normalen ausgestoßen hätte. Alles war in Ordnung, alles entsprach seiner Klassifikation: Stufe R. Er lehnte sich im Stuhl zurück und atmete auf – vielleicht war doch alles nur ein böser Traum. Aber gerade in diesem Moment, ohne daß er einen Anlaß erkannte, fiel ihm etwas Bestürzendes auf und ließ es siedendheiß in ihm aufsteigen: In diesem Protokoll stand nämlich nichts von seiner schmerzenden Schulter. Bisher hatte er kaum Gedanken darauf verschwendet – er erinnerte sich, daß vor Jahren einmal von einem Unfall die Rede gewesen war, und einmal hatte er in einem Spiegel eine schwache Narbe bemerkt, die vom Halsansatz nach hinten lief. Nur relativ selten spürte er Schmerzen, und er hatte sich so sehr daran gewöhnt, daß er sie kaum noch beachtete. Nun erst gewann dieses kleine Gebrechen an Bedeutung – als er nämlich feststellte, daß es in seinem medizinischen Protokoll fehlte.

Wieder begann er zu grübeln. Was war zu tun? Er zwang sich zur Ruhe, suchte die Situation logisch zu bewältigen und kam zum Schluß, daß er offiziell keinen Anlaß hatte, der Sache weiter nachzugehen. Denn normalerweise hätte er von dieser Unstimmigkeit nichts erfahren. Für ihn als Rechercheur existierte die Narbe nicht. Für ihn als Person freilich war sie vorhanden, und wenn er sich darum kümmerte, dann war das seine private Angelegenheit.

Es waren leise Geräusche, Schritte und Gesprächsfetzen, die Ben aus seinen Grübeleien rissen. Auch eine Frauenstimme war vernehmbar – es könnte sich also nur um Oswaldo Efman handeln und um dessen Sekretärin Gunda.

Gunda Iman war die einzige Frau in der Abteilung, und das unterstrich die Sonderstellung von Oswaldo, der der F-Kategorie angehörte. Für viele war es nicht recht verständlich, warum Oswaldo gerade eine Frau zur persönlichen Unterstützung brauchte, und immer wieder gab es Gerüchte, daß sie Schande miteinander trieben. Ben hatte solche Andeutungen stets mit Nachdruck zurückgewiesen; es erschien ihm unmöglich, daß Oswaldo zu einem solch abstoßenden Verbrechen fähig wäre. Damit war freilich die Frage noch nicht beantwortet, warum er eine Frau in seiner Nähe duldete – wobei sich gewisse Peinlichkeiten nie vermeiden ließen – und damit der perversen Phantasie des Personals Nahrung bot. Doch Angehörige der Kategorie F verhielten sich in mancher Weise ungewöhnlich, und es hatte wenig Sinn, sich darüber den Kopf zu zerbrechen.

Oswaldo wäre der einzige Mensch gewesen, den Ben gern um Rat gefragt hätte, doch hatte er sich bisher nicht dazu entschließen können. Wer konnte Oswaldos Reaktion vorhersagen? Vielleicht hätte er ihm einen väterlichen Rat geben können, durch ein beruhigendes Wort all die Unruhe beschwichtigen, der sich Ben ausgesetzt fühlte. Doch genau so gut war es denkbar, daß sich Oswaldo empört von ihm abwandte, und das hätte seine Situation unerträglich gemacht. Ben stellte das interaktive System auf ›Pause‹. Rasch schluckte er eine Tablette zur Hebung des Selbstbewußtseins und trat hinaus auf den Korridor. Nur wenige Meter von ihm entfernt, vor dem Eingang zur Nische seines Nachbarn, standen Oswaldo, Olf und Gunda. Als sie Ben sahen, unterbrach Oswaldo das Gespräch und kam auf ihn zu. Er schüttelte ihm die Hand. »Ich hatte noch nicht Gelegenheit, dir zu gratulieren! Herzlichen Glückwunsch! Deine Ableitungen sind fehlerlos – ich bekam vorhin den Bericht.«

»Ich habe nur meine Pflicht getan …«, murmelte Ben. »Es war ein Zufall, daß ich …«

Oswaldo hob abwehrend die Hand. »Nein, nein! Es ist schon oft vorgekommen, daß Kollegen solche Fälle an die Zentrale zurückgewiesen haben. Und sie haben richtig gehandelt – es ist nicht jedermanns Sache, eine solche Verantwortung auf sich zu nehmen.« Bisher waren sie bei den anderen stehengeblieben, doch nun wandte sich Oswaldo zu Bens Arbeitsnische. Gerade das war es, was dieser gern vermieden hätte: Oswaldo hatte sich immer für seine Arbeit interessiert, und so war es nicht ausgeschlossen, daß er sich auch diesmal einige Zwischendaten des neuen Falls einspielen ließ.

»Ich hatte übrigens vor«, fuhr Oswaldo fort, »dich für einen Lehrgang über Psychoprogrammierung vorzuschlagen. Wenn du ihn bestehst, und daran zweifle ich nicht, können wir dir eine höherqualifizierte Aufgabe übertragen. Es ist nicht einmal ausgeschlossen, daß damit auch eine Anhebung in die Q-Kategorie verbunden ist.«

Inzwischen waren sie an Bens Arbeitsplatz angekommen, und Oswaldo setzte sich wie selbstverständlich in dessen Stuhl und ließ seine Blicke über die Notizblätter schweifen, die auf der Arbeitsplatte ausgebreitet waren. »Woran arbeitest du jetzt? Wieder ein interessanter Fall?«

Jetzt muß ich es ihm mitteilen, jetzt ist der richtige Augenblick dafür, sagte sich Ben. Er ist dir wohlgesonnen, er hat Verständnis für dich, er wird dir helfen … Statt dessen hörte er sich selbst sagen: »Nichts Besonderes, Oswaldo. Keine Probleme …«

Oswaldo hob die Pauseneinstellung auf und drückte auf einige Tasten. Ben spürte ein leises Zittern, das seinen Körper zu erfassen versuchte, aber er atmete einige Male tief durch, und es gelang ihm, sich zu beherrschen.