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c) Die elektrische Stimulierung von Neuronen. Diese Methode bietet die günstigsten Aussichten, die Skala der Emotionen unter Kontrolle zu halten. Nachteil dieser Methode ist es, daß dem Adressaten dünne Silberdrähte ins Gehirn geführt werden müssen, was allerdings völlig schmerzlos erfolgt. Dabei kommt es insbesondere auf eine genaueste Positionierung der aktiven Spitze an – ein Problem, das bis heute noch nicht völlig gelöst ist (durch geringe Abweichungen vom anvisierten Zielort sind oft unerwünschte Reaktionen eingetreten). Im Moment wird an einer dreidimensionalen Kartierung der emotional ansprechbaren Stellen im Gehirn gearbeitet – mit dem Fernziel einer computerisierten Stimulation. Bisher ist die Methode noch zu aufwendig, um den Bürgern in ihrer Gesamtheit zugute zu kommen. Sie wird jedoch in Einzelfällen angewandt, insbesondere in Spezialfällen, etwa bei krankhaften oder kriminellen Abweichungen. Die Methode der elektrischen Stimulation wird übrigens auch zur Erzeugung synthetischer Träume sowie zur Gedächtnisaktivierung eingesetzt.

4.

Der nächste Tag – ein Sonntag. Doppelte Marmeladerationen, Biokaffee. Die Wochenfeier in der Aula, Verlesung des Grundgesetzes, Gesang, Auszüge aus dem Sozialprogramm, ein Sprecher der Volksbühne, Musik. Anstellen zum Mittagessen, farbige Pappbecher und Teller zur Feier des Tages. Sojawürze zur Proteinpastete. Fitness-Bier. Endspiel der Basketball-Meisterschaft, eine langweilige Fahrt zum Sportplatz, zwei Stunden Gedränge auf dem Weg zurück.

Eine Stunde bis zum Abendessen … Darauf hatte Ben gewartet. Er suchte seine Koje auf, zog den Vorhang zu. Er warf sich aufs Bett, doch es war diesmal nicht Blondy, die ihn interessierte. Er überzeugte sich, daß zwischen Vorhang und Wand kein kleiner Spalt freigeblieben war, der Einblick in seine Zelle gewährt hätte. Dann zog er seine Pillenschachtel hervor und die Plastiktüte, die er im Waschraum mit Wasser gefüllt hatte. Die Pillen waren trocken und schwer hinunterzuwürgen, und außerdem lösten sie sich schneller auf, wenn man Wasser nachtrank. Zuerst schluckte er sechs Konzentrationspillen und nach einigem Überlegen noch vier weitere. Es war ihm klar, daß ihm unbeschreiblich schlecht werden würde, aber er nahm es in Kauf. Er lag auf der Schaumgummimatratze, den Kopf auf das Kissen gestützt, die Augen geschlossen, und er versuchte, sich auf weit zurückliegende Ereignisse zu konzentrieren. Er spürte, wie sich als Folge der chemischen Präparate sein Bewußtsein veränderte, wie manches überdeutlich und quälend scharf wurde, wie sich die Kontraste verhärteten und Bewegungen zu gellenden Blitzen wurden. Natürlich war ihm nicht klar, auf welche Art und Weise er sich bemühen sollte, die Vergangenheit wachzurufen, und er versuchte es auf alle mögliche Art. Sein Herz klopfte vor Erwartung, als er merkte, daß es ihm besser und besser gelang, und plötzlich wurden ganze Schwärme von Details in sein Bewußtsein geschwemmt. Dutzende Bilder, rasch hintereinander aus dem Nichts heraus auftauchend und von weiteren verdrängt … Aber rasch kam die Enttäuschung – denn was da wie eine Flut in sein Bewußtsein einbrach, waren nur Belanglosigkeiten. Er sah Personen, die längst aus seinem Gesichtskreis verschwunden waren – aber es waren die üblichen Unterhaltungen über Sport und Spiele, Essen und Puppen, Energieverbrauch und Prämien. Er sah sich in verschiedensten Situationen, fast erstaunt darüber, wie lebendig diese längst vergrabenen Dinge wurden, aber es war nichts anderes als ein Sieg der Hockeymannschaft, die seine Sympathie besaß, ein Schlager aus den Hitparaden, der ihm früher einmal besonders gut gefallen hatte, Passagen aus Abenteuer- und Kriminalfilmen. Auch eine Menge unangenehmer Erinnerungen wurde heraufgespült: falsche Antworten, die er dem Psychiater gegeben hatte, die beschämende Begegnung mit einer Frau, die ihn zu berühren versucht hatte, die verlorene Magnetkarte, die dann plötzlich wieder aufgetaucht war …

Und dann wurde der Reigen der Bilder gestört, verdunkelt, vernebelt, und es waren Wellen von Übelkeit, die alles überschwemmten, und dann lag er in seiner Koje, wand sich vor Schmerz, glaubte sterben zu müssen, rief nach dem Arzt, dem Psychiater, dem Moderator …

Er erwachte im Behandlungsraum des Blockarztes, fühlte sich schwach und ausgeleert, doch die Übelkeit war wie ein Wunder vergangen, und so hoffte er, den Fragen, die ihm bevorstanden, begegnen zu können.

Ein Angehöriger der Psychokontrolle stand am Kopfende seines Lagers, daneben der Moderator und der Arzt. Durch ein Nicken deutete dieser an, daß Ben zur Befragung freigegeben war …

»Wieviel Tabletten hast du genommen? Was für Tabletten waren es? Warum hast du das getan? Du hast ein Verbot mißachtet. Weißt du nicht, daß die Einnahme limitiert ist?«

Ben wußte es, und es hatte keinen Sinn, es zu leugnen. »Ich habe mir nichts dabei gedacht«, sagte er leise und versuchte, seiner Stimme einen festen Klang zu geben. »Ich wollte es einmal ausprobieren. Ich wußte nicht, daß es so schlimm werden würde.«

»Du weißt, daß der Mißbrauch von Pillen schwer bestraft wird. Der Fortschritt der Pharmazie, den unser Staatssystem gefördert hat, soll den Menschen helfen, ihre Probleme zu bewältigen. Aber das setzt verantwortungsbewußte Mitglieder voraus. Es setzt voraus, daß die Vorschriften beachtet werden. Und diese Vorschriften haben ihren Sinn. Der menschliche Organismus verträgt biochemische Agenzien nicht unbeschränkt. Auf ein Übermaß reagiert er durch ein Abwehrsystem – dessen Folgen hast du zu spüren bekommen. Du gehörst der Kategorie R an und hättest wissen müssen, welche Folgen dein unüberlegter Schritt hatte. Warum hast du es getan?«

Ben wußte es genau. Und er wußte auch, daß es keineswegs der menschliche Körper war, der sich durch Übelkeit gegen die chemischen Stoffe wehrte. Vielmehr fügte man jeder Tablette eine geringe Menge eines Präparates hinzu, das diese Übelkeit erregte. Das war ein gutes Mittel, um die Einnahme der Tabletten, die alle gewünschten Emotionen hervorriefen, auf ein gewünschtes Maß einzudämmen. Und es war eine vernünftige Maßnahme und eine wirkungsvolle dazu. Ben hatte das bestätigt gefunden. Er hatte nicht erwartet, daß es so schlimm werden würde – mit Schaudern dachte er an die letzte Stunde zurück, als er sich hilflos im Bett gewälzt hatte. Aber offenbar gab es ein wirksames Gegenmittel, und man hatte es angewandt. Das kam ihm jetzt zugute, denn er konnte antworten, ohne sich eine Blöße zu geben. Er hatte es sich gut überlegt.

»Es ging mir nicht darum, high zu werden«, erklärte er. »Ich versuchte nur, eine bessere Erinnerung an einige Kurse zu erreichen, die ich vor Jahren besucht hatte … über Lehr- und Unterrichtsprogrammierung. Als eine Konzentrationspille nicht half, habe ich, ohne mir etwas dabei zu denken, einige weitere genommen. Das war dumm von mir – ich sehe es ein. Und ich habe Strafe verdient. Aber ich hatte keine böse Absicht.«

Jetzt kam es darauf an! Wenn sie ihm glaubten, kam er mit der üblichen Strafe davon: Punkteentzug, und diesen konnte er verschmerzen – nicht zuletzt wegen seiner Prämie. Glaubten sie ihm aber nicht, mußte er mit einer Psychobefragung rechnen, und dann war es gleichgültig, ob sie sich für eine Unterstützung durch Psychopharmaka oder durch gehirnelektrische Stimulation entschieden – es würde alles herauskommen, was er bisher noch hatte verbergen können.

Es waren bange Sekunden … Dann machte der Kontrolleur ein Zeichen auf die Personalkarte, die er in der Hand hielt, und reichte sie Ben. »Du hast sehr unüberlegt gehandelt«, sagte er. »Aber du hast deine Strafe schon bekommen. Es war das erstemal, und so kommst du ohne Punktentzug weg. Laß es dir eine Lehre sein!« Er nickte dem Arzt und dem Moderator zu und entfernte sich.