Blinkende Lichter in Strandnähe kennzeichneten gefährliche Riffe, und Leuchttürme mit grellen Strahlen warnten vor weitreichenderen Gefahren.
Sie ließen Anblick und Gerüche eine Weile auf sich einwirken, aber Mavra tat es mit gemischten Gefühlen. Die See bot einen seltsamen Widerspruch. Da war Freiheit, Erlösung, Entkommen — und ein fast unüberwindliches Hindernis zugleich. Auf der anderen Seite lagen die Wasser-Hexagons. Dies war vermutlich Zanti, das nach Twosh führte. Das lag von ihrem Ziel zu weit ab. Dahinter befand sich Yimsk, das zu Mucrol führte, neben Gedemondas, aber auch neben dem Spinnen-Hex Shamozan, das mit Ortega zusammenarbeitete. Im Norden lag Alestol mit seinen tödliches Gas ausstoßenden Pflanzen. Sie mußten noch Hunderte von Kilometern Sumpfland durchqueren, um nach Mucrol zu gelangen, und mindestens eine Hex-Seite nach Gedemondas. Dabei schien ihr Ziel so nah zu sein, knapp außer Reichweite.
Joshi erriet Mavras Gedanken.
»Was nun?«fragte er.
Was nun? fragte sie sich selbst. Wenn ihr Gedächtnis sie nicht im Stich ließ, bedeuteten diese Lichter, daß sie sich knapp nördlich des Haupthafens von Wuckl befanden, genau dort, wo sie die ›Toorine Trader‹ wiedertreffen sollten, wenn alles nach Plan verlaufen war.
Aber wie lange war das her? Welcher Tag, welche Woche, welcher Monat war das? Und selbst wenn sie noch rechtzeitig zur Stelle waren, wie konnten sie an Bord gelangen, ohne aufzufallen, und dann die Besatzung von ihrer wahren Identität überzeugen Nun, dort würde es wenigstens Abfälle geben und einen Platz zum Schlafen.
Sie liefen am Strand entlang nach Süden, und Mavra glaubte, die Stimme des Gedemondas wieder zu hören.
›Du wirst in die Hölle hinabsteigen‹, flüsterte sie. ›Erst dann, wenn die Hoffnung zunichte ist, wirst du erhoben…‹ Die Hoffnung war erst zunichte, wenn man tot war oder es ebensogut sein mochte, dachte sie. Zwei Schweine konnten das den Gedemondas in ihren eisbedeckten Vulkanhöhlen sagen und es ihnen in ihre selbstzufriedenen, allwissenden Gesichter schleudern.
Nahe der Grenze Ecundo — Wuckl
Er hatte wochenlang gesucht, weil er wußte, daß sie da sein mußten. Kurs, Geschwindigkeit und Position der ›Trader‹ hatten ihn davon überzeugt, daß Mavra nur in Ecundo abgesetzt worden sein konnte.
Renard flog in niedriger Höhe über Ecundo und suchte das Gelände ab, wie schon seit über zwei Wochen. Er kannte sie gut genug, um ihre Pläne zu erraten; er hatte die Bundas gesehen.
Was Renard weitertrieb, war sein Vertrauen in die seltsame Frau, die er seit über zwanzig Jahren nicht mehr gesehen hatte. Sie hatte sich nicht verändert, das bewiesen ihre erfolgreiche Flucht und die Proben ihrer Einfallskraft.
Ein Blick auf die Karte hatte ihn davon überzeugt, daß sie nur ein Ziel haben konnte: Gedemondas. Er war zusammen mit ihr in dem kalten Hex gewesen und hatte beobachtet, wie die Antriebskapsel abgestürzt und explodiert war. Aber niemand, der sich dort aufgehalten hatte, konnte sich erinnern, die geheimnisvollen Gedemondas selbst gesehen zu haben; nur Mavra beharrte darauf, sie nicht nur gesehen zu haben, sondern zusammen mit den anderen auch ihr Gast gewesen zu sein; die seltsamen Schneewesen hätten auf irgendeine Weise die Gehirne aller beeinflußt, nur das ihre nicht.
Manchmal, in seinen Träumen, schien Renard sie zu sehen, und gelegentlich sorgte er sich, sie könnte recht haben — wie stets zuvor. Ein Agitar-Psychiater hatte selbst mit Hilfe der modernsten Techniken keine blockierten Erinnerungen entdecken können und schließlich Renard davon überzeugt, daß er selbst recht habe, nicht Mavra, und daß seine Träume Spiegelungen ihres Wahns seien.
Aber Gedemondas blieb das einzige Ziel, das angesichts ihres Weges Sinn ergab; sie geriet nie in Panik, gab niemals auf und unternahm nie etwas Zielloses.
Die einzige Landverbindung zwischen Ecundo und Wuckl war eine 355 Kilometer lange Grenze, gesperrt durch einen Elektrozaun. Er hatte am südöstlichsten Ende angefangen und war über Land und in der Luft an der Grenze entlanggezogen, auf Spuren achtend. Wenig Wuckl lebten in Grenznähe; er konnte es ihnen nicht verdenken, wenn er die bösartige Gesinnung und die brutalen Tischmanieren ihrer Nachbarn bedachte.
Knapp nach der Hälfte des Weges hatte Renard ein größeres Gebiet gefunden, das als Park oder Wildreservat gestaltet war, und im Wald einen kleinen Gebäudekomplex entdeckt. Nicht weit davor stand ein Relaishaus mit den Generatoren und Monitoren für den nahen Zaunbereich. Er war an vielen solchen Stellen gelandet und hatte mit den Wesen gesprochen, die dort tätig waren; alles ohne Erfolg.
Plötzlich sah er einen Wuckl aus dem Relaishaus treten; er hatte seit geraumer Zeit kein solches Gebäude mehr besetzt gefunden und flog deshalb hinunter, um mit dem Geschöpf zu sprechen. Wie bei allen anderen Wuckl öffnete sich auch bei diesem der Schnabel weit, und der Kopf zuckte vor Verwunderung vor und zurück, als das riesige fliegende Pferd niedrig heranflog und landete.
Renard sprang mit seinen dünnen Ziegenbockbeinen aus dem Sattel und ging auf den Wuckl zu, der ihn überragte.
»Guten Tag und Dienst«, rief er, wie er es in Wuckl gelernt hatte. Die Sprache von Wuckl war ohne Geschlecht, obwohl die Bewohner drei hatten.
»Guten Tag auch Ihnen«, erwiderte der Wuckl verwirrt und sah zu Domaru hinüber.
»Ich bin weit umhergezogen auf der Suche nach jemandem, der so aussieht«, sagte Renard und zog eine Fotografie von Mavra heraus, die er von Ortega bekommen hatte.
Der Wuckl griff danach, betrachtete sie und geriet plötzlich in heftige Erregung.
»Was ist?«fragte Renard. »Haben Sie sie gesehen?«
»Z-zwei solche«, stammelte der Wuckl. Es war Toug. »Vor etwa zehnsechs Tagen. Ich habe sie aus dem Zaun geholt.«
»Sie — sie sind doch nicht tot?«stieß Renard hervor.
Der Kopf des Wuckls beschrieb einen Kreis, was Nein bedeutete.
»Ich habe sie zum Wildhüter gebracht. Sie meinen, sie waren — keine — Tiere?«
Renard erschrak.
»Nein — Leute wie Sie und ich, nur in anderer Form.«
»Du meine Güte!«entfuhr es Toug. »Sie müssen sofort mit mir zum Wildhüter!«
Renard griff nach Domarus Zügeln und folgte dem besorgten Wesen.
Tougs Reaktion war nichts im Vergleich zu der des Wildhüters, der, nachdem er alles gehört hatte, begriff, was er getan hatte.
»Die Gehirne habe ich nicht angerührt«, sagte er sofort. »Wenn es keinen dauerhaften Schaden durch die Stromstöße gegeben hat, würde die Konditionierung nach wenigen Tagen nachlassen — sie dient vor allem dazu, ein animalisches Schema zu etablieren oder alte Gewohnheitsmuster zu verändern.«
»Läßt sich das umkehren?«fragte Renard betroffen.
»Mehr oder weniger ja. Eine komplette Serie von Fotografien oder gute Zeichnungen, ja, ich denke schon. Aber nicht mehr ganz genau. Es würde wohl von ihnen abhängen.«
Renard akzeptierte das und empfand für den Wildhüter Mitgefühl. Die Welt war groß und kompliziert und Wuckl sehr abgelegen. Der Veterinär schien von seinen Schuldgefühlen nicht loszukommen.
»Es tut mir so leid«, erklärte er immer wieder. »Ich hatte einfach keine Ahnung.«
Er rief in der Hauptstadt an, um Renard den Weg zu ebnen, und erfuhr zum erstenmal, daß seine beiden Schützlinge geflohen waren.
»Damit mußte man wohl rechnen«, sagte der Wuckl seufzend. »Ich möchte mich dort auch nicht einsperren lassen. Passen Sie auf, ich gebe Ihnen eine Karte, damit Sie den Zoo finden, und Sie können von dort aus weitersuchen. Man hat bereits einen Aufruf erlassen und wird ergänzend bekanntgeben, daß es sich um intelligente Wesen handelt, damit sie nicht noch einmal in die Hände eines Pfuschers fallen. Man wird sie finden.«