„Ihr Rat ist nicht zu verwerfen. Werden Sie sich auf der Reise nach Berlin anschließen?“
„Gern.“
„Und ebenso lieb wäre es mir, wenn Sie morgen mit uns nach Etain fahren wollten.“
„Lieber heute noch.“
„Das geht nicht. So wichtig mir diese Angelegenheit ist, ich mag sie doch nicht überstürzen.“
„Pst“, warnte Fritz in diesem Augenblick. „Ein Wagen aus Ortry!“
„Der Alte?“ fragte Müller.
„Ich weiß es noch nicht. Das Verdeck ist zu. Ich kenne aber die Pferde.“
Er trat vom Fenster zurück, um nicht selbst auf seinem Posten bemerkt zu werden, ließ aber trotzdem den Blick nicht von unten weg und meldete nun auch:
„Ja, der Kapitän. Gehen wir hinaus?“
„Gewiß“, antwortete Müller. „Kommen Sie, meine Herren. Ich darf auf keinen Fall anwesend sein.“
Kaum hatte sich die eine Türe hinter den vier Herren geschlossen, so ging die andere auf, um Richemonte eintreten zu lassen. Er verbeugte sich höflich vor Emma von Königsau und sagte:
„Verzeihung, daß ich störe, Miß. Ich hörte, daß meine Enkelin sich hier befindet, und komme, sie abzuholen.“
„Sie stören keineswegs. Bitte, nehmen Sie Platz, Herr Kapitän.“
Er setzte sich auf die Hälfte des Sessels, so wie einer, welcher bereits im nächsten Augenblick wieder aufbrechen will. Sein Auge schweifte forschend im Zimmer umher; dann sagte er:
„Ich glaubte, Herrengesellschaft hier zu finden.“
„Wieso?“
„Ich sah Hüte draußen liegen. War vielleicht Herr Maler Haller hier?“
„Nein“, antwortete Emma.
„Ich möchte aber doch behaupten, daß er hier gewesen ist.“
Die scheinbare Engländerin erriet sofort den Zusammenhang, da sie die Ähnlichkeit Fritzens mit Haller kannte.
„Sie dürften sich sehr irren“, sagte sie.
„Wohl nicht“, lachte er höhnisch überlegen.
Sie stand von ihrem Stuhl auf und antwortete in stolzem, verweisendem Ton:
„Sie scheinen nicht gelernt zu haben, mit Leuten von Bildung zu verkehren, Herr Kapitän.“
„Ah“, stieß er hervor.
„Es ist eine gesellschaftliche Infamie, eine Dame einer Lüge zu zeihen.“
„Infamie. Donnerwetter. Wenn ich nun beweisen kann, daß diese Dame wirklich gelogen hat.“
„So wäre Ihr Verhalten immer noch ein rüdes. Übrigens würde Ihnen dieser Beweis wohl schwerfallen.“
Sie trat zur Nebentür, öffnete diese und sagte:
„Herr Schneeberg, bitte.“
Fritz trat in das Zimmer.
„Nun, das ist ja Herr Haller“, sagte der Alte, indem er höchst befriedigt dem Deutschen die Hand entgegenstreckte. „Diese Dame hat also doch gelogen.“
Marion hatte sich bisher völlig teilnahmslos verhalten. Jetzt hielt sie es für an der Zeit, auch ein Wort zu sagen:
„Verzeihen Sie, Miß de Lissa. Mein Großvater wird alt. Er leidet an Halluzination und hat sogar zuweilen Anfälle eines allerdings höchst ungefährlichen Irrsinnes. Man darf nicht auf ihn hören.“
Der Alte stand da, als ob er zur Statue geworden sei. Das war ihm denn noch noch nicht geboten worden.
„Was sagst du? Was meinst du?“ stieß er zischend zwischen den Zähnen hervor.
Dies sollte nur der Anfang eines Wutausbruchs sein. Aber Marion fiel ihm in die Rede: „Eine Dame von solcher Distinktion eine Lügnerin schimpfen, das ist Irrsinn, und diesen Herrn hier für den Maler halten, das ist ein Beweis von Halluzination. Mache dich nicht lächerlich, sondern siehe diesen Herrn genauer an. Herr Schneeberg, Pflanzensammler bei Herrn Doktor Bertrand.“
Da trat der Alte einen Schritt zurück, stieß einen erstaunten Pfiff aus und fragte:
„So, so. Berteu sprach von diesem Mann. Ein deutscher Spion, den wir unschädlich machen werden. Gibt es vielleicht in Etain oder Malineau noch etwas für Sie zu tun, Monsieur Schneeberg?“
Draußen im Nebenzimmer hatte Müller die drei anderen instruiert, was sie vorkommenden Falles antworten sollten. Fritz entgegnete einfach:
„Wüßte nicht, was ich dort zu suchen hätte.“
„Aber Sie hatten etwas zu suchen.“
„Freilich. Ich suchte fünfzehntausend Francs, welche der ehrenwerte Monsieur Berteu an Mademoiselle Nanon und deren Schwester schuldet.“
„Hm. Sie sind wohl der Beschützer dieser Damen?“
„Es kam mir ganz so vor, als ob in Malineau Damen gar sehr des Schutzes bedürften. Ist das auf Schloß Ortry vielleicht auch der Fall, Herr Richemonte?“
„Frecher Kerl. Ich werde mit der hiesigen Polizei sprechen. Man wird Ihnen das Handwerk legen.“
„Verbrennen Sie sich nicht, alter Herr. Wer weiß, was Sie selbst für ein Handwerk betreiben.“
„Pah. Ich werde Sie zertreten wie einen Wurm.“
Und sich an Marion wendend, fragte er höhnisch:
„Gibt es vielleicht noch mehrere solche Spione hier? Die Hüte draußen scheinen auf die Anwesenheit von dergleichen Gesellen zu deuten.“
Sie zuckte die Achseln und antwortete in überlegener Ruhe:
„Du scheinst dich für diese Hüte außerordentlich zu interessieren.“
„Natürlich.“
„Nun, wollen doch einmal sehen, ob sie wirklich ein solches Interesse verdienen.“
Sie öffnete den Eingang, griff auf den neben der Tür stehenden Tisch und trat, mit dem Hut des Malers in der Hand, dann zu dem Alten heran:
„Wem mag dieser da gehören?“ fragte sie.
„Jedenfalls einem Subjekte.“
„Du kennst ihn also nicht?“
„Nicht so nahe. Fort mit ihm. Er stinkt und duftet nach Spitzbubenfleisch.“
„Ich werde mir erlauben, dir diesen Spitzbuben vorzustellen.“
Sie öffnete die Nebentür und sagte:
„Bitte, Herr Hieronymus!“
Schneffke trat ein.
Hätte den alten der Schlag getroffen, er hätte kein anderes Bild geben können. Er wußte ganz genau, daß er diesen Menschen eingesperrt hatte und noch dazu in Fesseln und hinter mehreren verschlossenen Türen. Er hätte tausend Eide geschworen, daß er sich tief unter der Erde befinde, und nun stand jener hier, vor ihm, leibhaftig, lebendig. Der Alte fragte sich, ob Marion denn vielleicht doch vorhin recht gehabt habe, als sie behauptete, daß er an periodischem Irrsinn leide.
Der kleine dicke Maler lachte den konsternierten Alten lustig an und sagte:
„Sie machen ja ein Gesicht, wie eine geräucherte Schlackwurst, die von den Ratten angefressen worden ist. Kommen Sie gefälligst zu sich, Alter, sonst denke ich, daß Ihnen Ihr letztes bißchen Verstand flötengegangen ist.“
„Wie – wie – heißen Sie?“ stammelte der Kapitän.
„Hieronymus Aurelius Schneffke, mein lieber, alter Groß-, Ur- und Kapitalspitzbube. Sie denken, die Klugheit mit Löffeln gegessen zu haben; aber prosit die Mahlzeit. Sie werden von Ihren Untertanen doch über den Löffel balbiert. Kaum hatten Sie mich fest, so kam einer, der ließ mich wieder heraus. Ich glaube, er hieß Ribeau, der Busenfreund eines gewissen Berteu.“
„Lügner.“
„Mach keinen Unsinn, alter Karfunkelhottentott. Du bist so dumm, daß der, welcher dich betrügen will, die Wahrheit sagen muß, denn du glaubst sie ja doch nicht. Dein Verstand ist ganz von den Motten zerfressen, und dein Gehirn ist der reine Mehlwürmertopf, zerwühlt und zerfressen durch und durch. Alter Halunke, du kannst mich dauern. Mit dir geht es gewaltig auf die Neige. Für dich ist's am besten, du legst das Licht ins Bett und bläst dich selber auf.“
Dem Kapitän wollte der Atem vergehen. Er schnappte nach Luft – endlich, endlich gurgelte er hervor.
„Schuft. Spion verdammter.“
„Sei still. Du brauchst dich hier gar nicht erst vorzustellen. Wir kennen dich schon.“