Marion war draußen geblieben, Müller aber trat herein.
„Liama“, sagte er.
Sie mochte doch sofort hören, daß dies nicht die Stimme des Kapitäns sei. Sie wandte den Kopf. Als sie den Deutschen erblickte, sprang sie schnell auf.
„Du?“ fragte sie.
„Ja, ich“, antwortete er, ihr freundlich zunickend.
„Warum kommst du wieder?“
„Weil ich mit dir sprechen will.“
„Habe ich dich nicht gewarnt?“
„Ich fürchte ihn nicht.“
„Der Weißbart ist schrecklich in seinem Grimm.“
„Ich verachte denselben.“
„So mußt du sehr mächtig sein.“
„Ich bin nicht mächtig, aber ich habe ein gutes Gewissen, während das seinige nie zur Ruhe kommt.“
„Er selbst hat keine Ruhe. Er wandelt stets. Er kann auch jetzt kommen, und dann bist du verloren.“
„Er hat mich mehr zu fürchten, als ich ihn. Er ist ein Lügner und Betrüger. Er betrügt auch dich.“
„O nein. Mich betrügt er nicht. Allah verlieh mir klare Augen. Ich würde es sehen, wenn er mich täuschte.“
„Und dennoch betrügt er dich. Er ist dein Feind und ein Feind deines Kindes.“
„Meines Kindes? Nein. Er hat mir versprochen, Marion zu schützen, und er wird Wort halten.“
„Er hat sein Wort gebrochen. Er trachtet, Übles mit deiner Tochter zu tun. Ich habe mit ihr gesprochen.“
„Du hast sie gesehen? Spricht sie von Liama, ihrer Mutter?“
„Sie spricht von dir und will dich sehen.“
„Nein, nein, sie darf mich nicht sehen. Ich habe es geschworen.“
„Und er hat dafür geschworen, sie zu schützen?“
„Er hat es geschworen, bei Allah und bei seinem Gott.“
„Er hat den Schwur gebrochen.“
„Beweise es.“
Er trat zur Seite. Hinter ihm stand Marion unter der Tür. Liama starrte sie mit weit geöffneten Augen an. Dann breitete sie langsam die Arme aus und fragte:
„Wer ist das? Wen bringst du da? Wer ist dieses?“
„Mutter!“
Dieses eine Wort nur sprach Marion, dann eilten beide sich entgegen und lagen sich in den Armen.
Müller trat aus der Tür und machte dieselbe zu. Er wollte die Seligkeit der beiden nicht durch seine Gegenwart entweihen und lieber Wächter ihrer Sicherheit sein. Jubelnde und klagende Töne erklangen drinnen in dem Raum. Niemand schien an ihn zu denken. Er zog die Uhr. Eine Viertelstunde verging und noch eine. Da wurde die Tür geöffnet.
„Bist du noch da?“ fragte Liama heraus.
„Hier!“
„Komm herein.“
Er trat ein und zog die Tür hinter sich zu. Die einstige Liama war eine ganz andere geworden. Ihre Augen blitzten, und ihre Wangen hatten sich gerötet.
„Was du mir gesagt hast, das ist wahr“, sagte sie. „Warst du es, der mein Grab öffnete?“
„Ja.“
„Wer war dabei?“
„Hassan, der Zauberer.“
„Ich dachte es; ich hatte ihn erkannt. Du willst, daß Marion vor dem Weißbart fliehen soll, und ich soll mit ihr gehen?“
„Ja.“
„Wann soll ich gehen?“
„Jetzt, sogleich.“
„Gut. Ich gehorche dir. Mein Schwur hat keine Gültigkeit, denn er hat den seinigen gebrochen.“
„Bist du das Weib des Barons gewesen?“
„Nie.“
„Ah, unbegreiflich.“
„Liama hat ihn nie geliebt. Ich mußte ihm folgen, um den Vater und den Geliebten zu retten, aber nicht der Kadi hat mich ihm gegeben, und von einem Eurer Priester habe ich keinen Segen verlangt.“
„So ist Marion nicht seine Tochter?“
„Nein. Er durfte mich nie berühren.“
„Wessen Tochter ist sie dann?“
„Das werde ich ihr sagen, wenn die Zeit dazu gekommen ist. Wohin ist Abu Hassan gegangen?“
„Ich weiß es nicht.“
„Auch nicht, ob er wiederkommen wird?“
„Auch nicht. Aber warum bist du bei dem Baron geblieben?“
„Ich hatte es ihm geschworen, und er bedurfte meiner, wenn der Wahnsinn seinen Geist verfinsterte.“
„Wie aber kam es, daß du sterben mußtest?“
„Ich sollte es nicht wissen, aber ich habe es belauscht. Eine andere liebte den Baron. Sie wurde sein Weib, und ich mußte weichen.“
„Ich habe es mir gedacht. Du folgst mir also. Hast du etwas mitzunehmen?“
„Nein, gar nichts.“
Da fragte Marion:
„Werde ich wieder in das Schloß zurückkehren?“
„Nein, Mademoiselle.“
„Aber ich habe doch manches, was ich mitnehmen muß.“
„Ich werde es Ihnen besorgen. Wir gehen jetzt zu Doktor Bertrand. Dort schreiben Sie alles auf, was Sie brauchen. Können wir also gehen?“
„Ja.“
Liama ließ alles stehen und liegen, wie es stand und lag. Sie erfaßte die Hand ihrer Tochter und sagte:
„Komm, mein Kind. Fluchen wir dem alten Graubart nicht. Allah wird ihn treffen mit seinem Zorn und ihn vernichten mit seinem Grimm.“
Müller schritt mit der Laterne voran, und sie folgten ihm durch den Gang bis hinaus in das Waldloch. Es war unterdessen dunkel geworden, und man konnte nicht weit sehen. Schon wollte Müller einen Ruf nach Fritz ausstoßen, als jener ihm zuvor kam.
„Pst!“ erklang es hinter einem Baum hervor.
„Fritz?“
„Ja. Ah, ich konnte Sie doch nicht gleich erkennen.“
Er trat zu ihm heran. Müller erkundigte sich:
„Ist – der Gefangene mit da?“
„Ja. Er liegt dort im Moos und schläft. Die frische Luft ermüdet ihn.“
„Hat man euch gesehen?“
„Kein Mensch. Ich habe den – – – den Herrn bis hierher tragen müssen. Es ist ein Herzeleid, wie es ihm ergangen ist.“
„Wie lange ist er gefangen gewesen?“ fragte Marion.
„Volle sechzehn Jahre.“
„Und diese Ewigkeit hat er in dieser Zelle gesteckt?“
„Ja.“
Sie schlug die Hände zusammen, fühlte sich aber unfähig, ein Wort zu sagen.
„Führe uns zu ihm“, bat Müller.
Fritz brachte sie eine Strecke weiter in den Wald hinein, wo Gebhard von Königsau schlafend lag. Sein Atem ging ruhig. Man merkte förmlich, daß bei jedem Atemzug Erquickung in seinen Körper strömte.
„Lassen wir ihn schlafen“, sagte Müller.
„Aber dürfen wir hier warten?“ bemerkte Fritz.
„Kann er nach der Stadt gehen? Und darf Liama in ihrer orientalischen Kleidung gesehen werden? Eile du, so schnell du kannst, zu Doktor Bertrand; spanne seinen Wagen an und komme heraus, uns abzuholen.“
„Schön! Wo treffe ich Sie?“
„Drüben am Waldrand, wo der Vikinalweg vorüber geht.“
„Und wenn Bertrand fragt – – –?“
„Du sagst nichts.“
„Oder das gnä – – – wollte sagen, Miß de Lissa?“
„Kein Wort! Beeile dich! Wir haben heute noch sehr viel zu tun.“
Der treue Kerl eilte fort, so schnell er vermochte. Die andern ließen sich im Gras und Moos nieder, Marion neben der Mutter und Müller neben seinem Vater. Er bewachte dessen Atemzüge, während Mutter und Tochter, die Arme eng verschlungen, leise miteinander flüsterten.
Müller wollte nichts hören, aber es drang doch, wenn auch nur schwer verständlich, zu ihm herüber:
„Und du liebst ihn, mein Kind?“
„So sehr, so sehr!“
„Er ist es wert.“
Von wem sprachen sie? Müller veränderte seinen Platz, so daß er nichts mehr zu hören vermochte. –
Unterdessen war der alte Kapitän auf den heimlichen Wegen in sein Zimmer gekommen. Er hatte lange Zeit acht gegeben, ob er unbemerkt in die Vorratskammer kommen könne. Ehe ihm dies gelang, waren wohl zwei Stunden vergangen. Dann eilte er mit Brot und Wasser zurück. Einen großen Krug voll des letzteren und ein Brot ließ er im Kreuzgang, um es später Liama zu bringen. Mit dem anderen Vorrat passierte er mühsam den Brunnen und gelangte endlich in den Gang, in welchem, seiner Meinung nach, Rallion als Sieger auf ihn wartete.