„Sehen Sie her!“ sagte er. „Was ist das?“
„Stearin am Boden!“
„Ja. Ganz frisch. Aus einer Laterne getropft. Wir beide aber brennen Öl. Was folgt daraus?“
„Hier sind sie gegangen.“
„Richtig. Sie kennen also auch diesen Gang und diesen Weg. Steigen wir empor. Vielleicht findet sich noch eine Spur.“
Sie kamen bis dahin, wo Müller mit Marion gestanden, vorher aber seine Laterne eingesteckt hatte. Beim Verschließen der Blende hatte er wieder einen Tropfen Stearin verloren.
„Hier wieder“, sagte der Alte, „sehen Sie?“
„Ja, ganz deutlich.“
„Kein Zweifel. Sie sind hier gegangen und – sollten sie etwa –“
„Was?“
„Da hinten steckt auch so eine Art Gefangene.“
„Vielleicht haben sie diese auch befreit!“
„Dann schlage das Wetter drein. Wollen sehen.“
Er stürmte vorwärts und untersuchte die Tür.
„Sie ist verschlossen.“
Er öffnete und trat ein. Rallion folgte. Die Lampe brannte noch.
„Hier ist sie nicht“, meinte der Alte, indem er sich geradezu voller Angst zeigte. „Vielleicht ist sie draußen in der Nebenstube.“
Rallion wollte ihm auch da folgen; aber er wies ihn mit den barschen Worten zurück:
„Bleiben Sie. Da draußen haben Sie nichts zu suchen.“
Als er nach einiger Zeit zurückkam, zeigte sein Gesicht geradezu den Ausdruck der Verstörtheit.
„Auch sie ist fort“, murmelte er grimmig.
„Entflohen?“
„Ja.“
„Wer?“
„Das ist Nebensache. Ich hatte der Person gewisse Freiheiten gewährt, schloß sie aber heute ein. Beide Schlösser sind verschlossen, sie aber ist fort.“
„Das ist freilich Pech über Pech.“
„Mehr als Pech. Sie wissen nicht, was dabei für mich auf dem Spiel steht. Es bleibt mir nichts anderes übrig, als die Eingänge zu vernichten oder zuzuschütten und einstweilen das Weite zu suchen.“
„Ist es denn so gefährlich?“
„Ja. Ich muß Gras darüber wachsen lassen. Das wird, falls der Krieg losbricht, nicht lange dauern.“
„Aber die Eingänge zerstören, das erfordert Arbeit und Zeit.“
„Gar nicht. Ich habe bereits für einen derartigen Fall meine Vorbereitungen getroffen. Kommen Sie.“
Er kehrte mit ihm nach dem Kreuzgang zurück. Dort schien eine der Steinplatten zerbrochen zu sein. Er nahm zwischen zwei Rissen ein Steinchen heraus, und sofort kam ein Draht zum Vorschein. Er zog daran, und in demselben Augenblick rollte ein donnerartiges Geräusch durch die Gewölbe. Es schien von mehreren Seiten zu kommen.
„Was war das?“ fragte Rallion.
„Kleine Minen.“
„Ah! Die Eingänge zusammengestürzt?“
„Alle. Und auch noch anderes ist vernichtet.“
Er zog die Uhr und blickte auf das Zifferblatt. Dann sagte er:
„In einer Stunde geht ein Zug nach dem Süden. Mit diesem fahren wir.“
„Warum nicht erst morgen?“
„Ich werde mich nicht hersetzen, wenn man die Hände ausstreckt, mich festzunehmen. Ein lustiger Krieg, und dann ist alles wieder gut!“
Eine Viertelstunde später verließen beide das Schloß. Der Kapitän trug all sein vorrätiges Geld bei sich. Er glaubte einer Gefahr entfliehen zu müssen, die es gar nicht gab. –
Noch saß Müller bei seinem Vater und den Frauen, als es in der Nähe zu prasseln begann. Es krachte einige Augenblicke lang, und dann war alles ruhig.
„Was war das?“ fragte Marion.
„Ich werde nachsehen“, antwortete er.
Er brannte die Laterne an, welche er verlöscht gehabt hatte, und ging zu dem Eingang, aus welchem sie vorhin gekommen waren. Er war verschüttet.
„Der Kapitän hat die Flucht bemerkt“, sagte er, „und verschüttet die Eingänge, damit niemand entkommen soll.“
„Doch wohl nur diesen?“
„Wohl nicht. Ich glaube, das Krachen, welches wir gehört haben, kam auch von anderen Orten. Am besten wird es sein, wir brechen auf.“
Auch Königsau war bei dem rollenden Geräusch erwacht.
„Was war das?“ fragte er.
„Nichts Gefährliches“, beruhigte ihn Müller.
„Wo bin ich denn?“
„Bei Freunden.“
„Und wer sind Sie?“
„Kennen Sie mich nicht?“
Er beleuchtete sein Gesicht mit der Laterne.
„Oh, mein Retter!“
„Sie sehen also, daß Sie ruhig sein können. Sind Sie sehr ermüdet?“
„Ich werde gehen können.“
„Stützen Sie sich auf mich.“
Er ging mit ihm voran, und Marion folgte langsam mit ihrer Mutter. Als sie an der Waldecke ankamen, hörten Sie Pferdegetrappel. Bald hielt Fritz bei ihnen.
„Wie arrangieren wir das?“ fragte er.
„Die Damen in den Wagen“, antwortete Müller. „Ich fahre und nehmen diesen Herrn zu mir auf den Bock. Du läufst nach Hause. Warst du verschwiegen?“
„Ich habe kein Wort gesagt.“
Er half den beiden Frauen in den Wagen und dem schwachen Königsau auf den Bock. Müller schlang den Arm um seinen Vater und trieb die Pferde an.
„Fritz, komm baldigst nach“, sagte er noch.
„Sehr wohl, Herr Doktor!“
Als später der Wagen vor Doktor Bertrands Tür hielt, wollte Marion den Schlag öffnen, um zuerst auszusteigen, aber da sagte eine bekannte Stimme:
„Bitte, Mademoiselle, das kommt mir zu.“
Müller hörte das und traute seinen Ohren nicht.
„Fritz“, sagte er.
„Herr Doktor?“
„Du hier?“
„Ja.“
„Wie kommst du so schnell hierher?“
„Ich habe mich hinten festgehalten und bin mit fortgetrabt. Das geht ganz prächtig, viel besser, als wenn man auf dem Bock sitzt.“
Recht gelegen trat jetzt der Arzt aus der Tür.
„Herr Doktor“, fragte ihn Müller, „haben Sie nicht ein separates Zimmer für diesen Herrn? Er ist Patient.“
„Ein allerliebstes Zimmerchen, gerade neben demjenigen, welches Sie für heute bekommen werden.“
„Schön! Bitte, bringen Sie ihn sofort hinauf. Er ist so angegriffen, daß er der Ruhe bedarf.“
Müller hob seinen Vater vom Bock, Bertrand bot demselben den Arm und brachte ihn in das erwähnte Zimmer. Hier brannte Licht, und nun erst bemerkte der Arzt, in welchem Zustand sich sein Patient befand.
Schon unterwegs war ihm der penetrante Geruch, der von diesem ausging, aufgefallen.
„Mein Gott!“ sagte er. „Sie sind ja fast unbekleidet! Woher kommen Sie?“
„Ich war gefangen“, seufzte der Gefragte.
„Wo?“
„In einem unterirdischen Loch in Ortry.“
„Was? Wirklich? Wer nahm Sie gefangen?“
„Der Kapitän.“
„Wie lange waren Sie da?“
„Sechzehn Jahre.“
„Herrgott! Widerrechtlich?“
„Gewiß!“
„Bitte, darf ich Ihren Namen hören?“
„Gebhard von Königsau.“
Der Arzt fuhr zurück. Dann fragte er:
„Wer hat Sie befreit?“
„Ein Herr Doktor Müller.“
„Dieser Herr ist wohl ein Bekannter von Ihnen?“
„Ich kenne ihn nicht.“
Nun wußte der Arzt, daß Müller sich noch nicht zu erkennen gegeben hatte und daß auch er schweigen mußte.
„Gedulden Sie sich einen Augenblick“, bat er. „Ich kehre sogleich zurück.“
Wenige Minuten später kam er mit dem Apotheker, welcher eine Badewanne trug. Das Hausmädchen brachte heißes Wasser. Königsau mußte vor allen Dingen ein Bad nehmen.
Unterdessen war Müller mit Marion und ihrer Mutter nach oben gegangen. Dort waren die Engländerin, der Amerikaner, Nanon und Madelon beisammen. Die Frau des Arztes befand sich bei ihnen.
Diese letztere sprang, als sie Liama erblickte, leichenblaß von ihrem Stuhl auf und rief: