„Ich achte deine Gründe, auch ohne sie zu verstehen. Du bist Offizier und mußt –“
Er schwieg plötzlich. Sein Auge verlor den Glanz, der es belebt hatte. Er fragte mit tonloser Stimme:
„Richard, bist du wirklich Rittmeister?“
„Ja, Vater!“
„Aber diese Gestalt. Dieser, dieser – du warst als Knabe so wohl gewachsen.“
„Oh, ich bin es auch noch“, lachte Richard.
„Aber – ich begreife nicht.“
Da neigte sich der Rittmeister zu ihm nieder und sagte leise:
„Ich habe ihn nur angeschnallt.“
„Den Buckel?“
„Ja, den Buckel. Und dieser dunkle Teint ist erzeugt durch den Saft der Walnußschale.“
„Wozu diese Komödie?“
„Ah, du kannst noch nichts davon gehört haben. Wir stehen vor einem Kriege mit Frankreich –“
„Gott sei Dank! Jetzt werden wir alle Scharten auswetzen. Geht es bald los?“
„Vermutlich. Ich bin als Eclaireur unter der Flagge eines Erziehers auf Schloß Ortry.“
„Welch eine Himmelsfügung!“
„Heute aber erhielt ich die Depesche, welche mich nach Hause ruft.“
„Wir fahren zusammen. Aber als was ist Emma hier?“
Der Rittmeister wollte antworten, sie aber legte ihm errötend die Hand auf den Mund und sagte:
„Auch als Spionin, lieber Vater. Wir werden die alles später erklären.“
„Das ist freilich notwendig; ich muß doch alles kennenlernen, was euch betrifft, denn –“
Er hielt inne, denn die Tür öffnete sich und Deep-hill trat ein. Er bemerkte die trauliche Gruppe: er sah die freudige Erregung aus ihren Augen leuchten.
„Oh, bitte um Entschuldigung“, sagte er, im Begriff, sich schnell wieder zurückzuziehen.
„Nein; bleiben Sie!“ rief ihm der Rittmeister entgegen. „Sie stören nicht, sondern Sie sind uns im Gegenteil sehr willkommen.“
Da zog der Amerikaner die Tür hinter sich zu und sagte:
„Ich hörte den Bericht von der Befreiung eines Opfers dieses höllischen Kapitäns und kam herbei, um meine lebhafteste Sympathie auszudrücken.“
„Für welche wir alle drei Ihnen herzlich danken. Baron Gaston de Bas-Montagne – Gebhard von Königsau, unser lieber, wiedergefundener Vater.“
Königsau verbeugte sich höflich, der Amerikaner aber war so betreten, daß er vergaß, es auch zu tun.
„Wie?“ fragte Deep-hill. „Ist dies der Herr, den Sie befreit haben?“
„Ja, das ist er.“
„Und Sie nennen ihn Ihren Vater?“
„Das ist er ja auch.“
„Wunderbar.“
„Erinnern Sie sich der Familiengeschichte, welche ich Ihnen erzählte, als wir uns unten im Gewölbe fanden?“
„Vollständig, natürlich.“
„Nun, es waren die Schicksale meiner eigenen Familie. Und dieser ist der verschollene Vater, den ich erwähnte.“
„Wunderbar, wie gesagt, wunderbar! Herr von Königsau, ich gratuliere Ihnen aus freudigstem Herzen nicht nur zu Ihrer endlichen Erlösung, sondern auch zu solchen Kindern. Ihr Herr Sohn ist ein außerordentlicher Mensch. Sie hat er errettet; Mademoiselle Marion hat er errettet; den Maler hat er errettet; mich hat er errettet. Er scheint es als eine spezielle Aufgabe zu betrachten, die Kerker der Unglücklichen zu öffnen. Dieser Herr Doktor Müller –“
„O bitte!“ fiel Richard lachend ein. „Rittmeister von Königsau von den preußischen Gardeulanen, wenn Sie gütigst gestatten!“
„Ritt – – –“
Das Wort blieb ihm im Mund stecken.
„Ja, es ist ganz richtig so, Herr Baron!“ stimmte Emma bei.
„Aber, Rittmeister, bei dies – – – dies – – –“
„Bei diesem Buckel! Nicht wahr?“ lachte Richard.
„Ich gebe es beschämt zu.“
„Nun, ich will Ihnen im Vertrauen mitteilen, daß ich gar nicht bucklig bin, doch allerdings nur im Vertrauen, mein lieber Baron.“
„So also, so ist das! Sie großartiger Pfiffikus! Na, hier meine Hand; es wird nichts verraten!“
„Danke! Ganz besonders darf Baronesse Marion keine Ahnung haben, daß ich nicht der Hauslehrer Müller bin.“
„Warum gerade diese nicht?“ fragte sein Vater.
„Weil ich sie liebe, Vater!“
„Du liebst diese gute, wundervolle Blume?“
„Ja.“
„Höre, Richard, diese Freude ist ja fast wie diejenige des Wiedersehens. Aber – liebst du glücklich, trotzdem sie dich für bucklig hält?“
„Trotzdem.“
„Junge, das möchte ich denn doch bezweifeln.“
„Sie hat mich in Dresden in Uniform gesehen und seitdem meine Fotografie bei sich getragen, ohne daß ich es ahnte. Ich habe sie gleichfalls da gesehen und dann ihr Bild im Herzen getragen, ohne daß sie es ahnte.“
„Wie poetisch.“
„Es wird noch poetischer, lieber Vater! Wir wußten beide nichts voneinander. Da komme ich verkleidet als Erzieher hierher und finde sie als die Tochter des Hauses.“
„Nachdem er ihr bei einem Dampfschiffsunglück das Leben gerettet hat“, schaltete sich Emma ein.
„Das ist wirklich wunderbar. Erkannte sie dich?“
„Nein. Sie fand nur eine große Ähnlichkeit heraus. Nun setze ich meinen Stolz darein, von ihr geliebt zu werden trotz der beengten, bürgerlichen Stellung.“
„Du bist sehr kühn, mein Sohn.“
„Gelingt es, so werde ich später zehnfach glücklich sein. Also, bitte dringend, ihr ja nichts merken zu lassen. Nun aber, lieber Vater, wollen wir uns zurückziehen. Du bedarfst jedenfalls ganz dringend der Ruhe.“
„O nein. Ich fühle mich so kräftig und wohl wie nie. Ihr sollt bleiben. Ihr sollt nicht fort. Wollt ihr denn nicht wissen, wie es mir ergangen ist, und wie ich in die Hände dieses Richemonte gefallen bin?“
„Wir möchten wohl sehr gern, aber du mußt dich schonen. Später ist auch noch Zeit.“
„Nein. Jetzt ist die beste Zeit. Setzt euch.“
Die Geschwister gehorchten, doch der Amerikaner machte eine Bewegung, als ob er sich entfernen wolle.
„Bleiben Sie immer, Herr Baron“, sagte Richard. „Sie haben so viel von unserer Geschichte gehört, daß Ihnen diese Episode nicht vorenthalten werden darf.“
„Ja, bleiben Sie“, bat auch der Vater. „Sie sollen erfahren, wie tief und schwarz der Abgrund einer verruchten Menschenseele ist.“
Er begann zu erzählen von seiner Abreise an, bis zu dem Kampf im Wald, wo er von Richemonte niedergestochen war, und dann von seinem Aufenthalt bei dem Schäfer Verdy und dessen Tochter Adeline, der jetzigen Baronin von Sainte-Marie.
„So müssen wir ihr für diese sorgsame Pflege innig dankbar sein“, bemerkte Richard. „Sie hat dir das Leben erhalten.“
„Aber welch ein Leben. Und zu welchem Zweck hat sie es mir erhalten“, sagte sein Vater kopfschüttelnd. „Sie wollte Baronin werden. Ich war die Waffe in ihrer Hand gegen den Kapitän. Sie hat ihren Zweck erreicht, und ich verfaulte im eigenen Unrat.“
Er erzählte, daß er noch als Rekonvaleszent in einem Wagen nach Ortry geschafft und dort in das unterirdische Loch gesteckt worden sei. Er schilderte seine körperlichen und seelischen Leiden, obgleich sie wohl nicht ganz zu beschreiben waren. Er tat das in so beredten Worten, daß die Augen der Zuhörer nicht trocken wurden.
Nachdem er ausgeredet hatte, sprang der Amerikaner von seinem Stuhl auf, rannte wütend in dem Zimmer hin und her und fragte dann:
„Herr von Königsau, was werden Sie tun? Wie werden Sie gegen diesen Richemonte handeln?“
„Das weiß ich jetzt noch nicht. Ich ahne, daß ich dazu das Gutachten meines Sohnes ausbitten muß.“
„So, so! Wissen Sie, wie dieses Gutachten lauten wird?“
„Nun?“
„Er wird sagen: Laß ihn laufen, Vater; wenigstens jetzt laß ihn laufen! Später nehmen wir ihn beim Schopf.“
„Nun, ich denke, wenn Richard so sagte, so wird er wohl seine Gründe haben.“