„Nun, so mag es sein. Geht mich allerdings auch gar nichts an. Aber da ich hörte, daß ein alter Bekannter dort abgestiegen ist, so – – –“
„Von uns?“
„Ja.“
„Wer ist das?“
„Eben dieser Monsieur Lemartel.“
„Sie irren sich wirklich. Wir kennen keinen Lemartel, wirklich nicht.“
„Wenn das so ist, so kenne ich Sie auch nicht.“
„Wir haben Ihnen unsere Namen mitgeteilt.“
„Ja. Sie heißen Marmont und Ihr Kamerad hier Chapelle?“
„Ja.“
„Nun, so täusche ich mich unmöglich. Sie müssen diesen Monsieur Lemartel sehr genau kennen.“
„Gar nicht.“
„Und doch. Gestatten Sie mir nur, Ihrem Gedächtnis ein wenig zu Hilfe zu kommen.“
Er öffnete den Tischkasten und nahm aus demselben zwei Zeitungsblätter, von denen er beiden je eins reichte.
„Bitte lesen Sie.“
Kaum hatten sie einen Blick darauf geworfen, so rief Vater Main erschrocken:
„Tausend Teufel!“
Und der Bajazzo sekundierte ebenso rasch:
„Himmeldonnerwetter!“
„Was ist denn?“ fragte der Jude gelassen.
„Ein Steckbrief“, sagte Vater Main.
„Ja, ein Steckbrief“, antwortete auch der Seiltänzer.
„Über wen denn?“
„Über einen Schankwirt aus Paris, welcher dort angeblich Vater Main tituliert wurde.“
„Über einen Akrobaten, namens Lermille.“
„Weshalb werden diese beiden denn verfolgt?“ fragte der Jude lächelnd.
„Wegen Hehlerei und Menschenraub.“
„Wegen beabsichtigten Mordes und schweren Diebstahles.“
„Das ist freilich schlimm. Kennen Sie die beiden Männer nicht, Monsieur Marmont?“
„Nein.“
„Und Sie auch nicht, Monsieur Chapelle?“
„Nein.“
Da nahm das Gesicht des Juden einen sehr strengen Ausdruck an. Er stand von seinem Sitz auf und sagte barsch:
„Gute Nacht!“
„Sapperment! So rasch! Warum denn?“ fragte Vater Main.
„Das fragen Sie noch?“
„Natürlich.“
„Nun, so will ich Ihnen sagen, daß ich meine Geschäftsfreunde mit Vertrauen behandle und aber auch von ihnen Vertrauen verlange. Nur so ist ein Zusammenwirken möglich. Kennt man sich genau, so weiß man auch, wie man sich am besten nützen kann. Nicht?“
„Ich lasse das natürlich gelten.“
„Also, warum verleugnen Sie sich denn?“
„Wer sagt Ihnen denn, daß ich Vater Main bin?“
„Und ich der Akrobat Lermille?“
„Ich weiß es, damit basta!“
„Aber Sie irren sich wirklich!“
„Gut! So sind wir geschiedene Leute. Holen Sie sich also Ihre Kaftans, wo es Ihnen beliebt, nicht aber hier bei mir!“
Die beiden blickten einander verlegen an. Mit einem so allwissenden Hehler hatten sie noch nicht zu tun gehabt.
„Nun?“ fragte dieser, als sie zauderten.
„Verdammt!“ brummte Vater Main vor sich hin. „Es ist zu gefährlich!“
„Mißtrauen Sie mir?“
„Wir kennen uns noch nicht lange genug.“
„Ich Sie auch nicht, he? Glauben Sie wohl, daß ich Ihnen bereits abgekauft hätte, wenn ich nicht genau gewußt hätte, wer Sie sind? Sie werden verfolgt; aber gerade darum sind Sie mir sichere, also willkommene Leute. Also, hier meine Hand, Vater Main!“
Er streckte ihm die Hand entgegen.
„Na meinetwegen!“ antwortete dieser, einschlagend. „Ich will es wagen, den Kopf in den Rachen des Löwen zu stecken. Schnappt er zu, dann adieu, Makaronentorte.“
„Und Sie, Monsieur Lermille?“
„Nun kann ich auch nicht anders. Hier meine Hand.“
Sie schüttelten sich die Hände. Dann setzte der Jude sich wieder nieder und sagte:
„Jetzt läßt es sich ganz anders sprechen. Wir müssen Vertrauen haben und werden einander nicht verraten. Werden Sie mir nun wohl auch gestehen, daß Sie ins Hotel du Nord wollen?“
„Na, denn ja“, erklärte Vater Main.
„Zu Lemartel?“
„Ja.“
„Sie kennen ihn?“
„Leidlich.“
„Ich auch. Wollen Sie ihn anpumpen?“
„Vielleicht.“
Der Blick des Juden schien die beiden durchdringen zu wollen. Dann meinte er:
„Ich will Ihnen gestehen, daß auch ich früher in Paris gewohnt habe. Ich kenne den Lumpenkönig und habe alle Ursache, mich zu freuen, wenn Sie ihn nicht schonen. Denken Sie, daß es Ihnen gelingt, ihn anzuzapfen?“
„Wir hoffen es.“
„Schön! Dann kommen Sie zu Geld und können sich das kaufen, was Ihnen am allernötigsten ist.“
„Was?“
„Legitimationen.“
„Sapperment! Das ist wahr. Aber woher nehmen? Können Sie uns vielleicht einen guten Rat geben?“
„Vielleicht.“
„Wie müßte man einen solchen Handel entrieren?“
„Hm! Ich kenne einen kleinen Beamten, dem aber trotzdem Formulare und Siegel aller Art zur Verfügung stehen.“
„Also authentisch? Nicht nachgemacht?“
„Nein, sondern echte Dokumente.“
„Wetter noch einmal! Das wäre ein Glück. Aber, ist er sehr teuer?“
„Ich halte ihn für sehr billig.“
„Welche Preise hat er?“
„Alle Legitimationen vom Geburtsscheine an bis zum Paß, auf einen beliebigen Namen tausend Francs.“
„Alle diese Legitimationen in Summa für diesen Preis?“
„Ja.“
„Das ist billig, sehr billig. Trotzdem aber ist es sehr teuer, wenn man die tausend Francs nicht hat.“
„Ich denke, Sie wollen – – –“
„Ja freilich! Und ich hoffe, daß es gelingt. Wo aber wohnt dieser kleine Beamte, und wie heißt er?“
„Das darf ich nicht verraten.“
„So nützt uns Ihre ganze Mitteilung nichts.“
„O doch! Ich erbiete mich ganz gern, den Vermittler zu machen, Messieurs.“
„Das läßt sich hören. Aber, wie lange dauert es, bis man das Bestellte erhält?“
„Das kommt auf die betreffenden Umstände an.“
„Ich setzte den Fall, wir wollen noch in dieser Nacht von hier fort.“
„Ist das unumgänglich notwendig?“
„Vielleicht wird es nötig.“
„Dann hätten Sie zweihundert Francs pro Person mehr zu bezahlen, würden aber dafür die betreffenden Papiere bereis binnen zwei Stunden in Empfang nehmen können.“
„Und wann ist das Geld zu zahlen?“
„Bei Aushändigung der Papiere. Wollen Sie die Bestellung machen?“
„Wir können jetzt noch nicht, da wir nicht mit aller Genauigkeit sagen können, ob wir von Lemartel Geld erhalten werden.“
Da meinte der Bajazzo:
„Sei nicht so zaghaft! Wir können nicht bleiben; wir brauchen Geld, also muß er es schaffen, auf jeden Fall!“
„Meinst du? Na, so wollen wir also annehmen, daß wir in zwei Stunden Geld haben werden.“
„Soll ich daher die Legitimationen bestellen?“ fragte der Jude.
„Ja.“
„Auf welche Namen?“
„Ist egal. Wie aber steht es nun mit den Kaftans?“
„Die bekommen Sie. Aber vorher noch eine Frage. Sie sprachen vorhin davon, daß Sie möglicherweise die Stadt noch während dieser Nacht verlassen müssen?“
„Dieses Muß kann allerdings eintreten.“
„Wohin werden Sie sich wenden?“
„Hm! Das weiß der Teufel! Man sucht uns ja bereits überall.“
„Ich rate Ihnen, außer Land zu gehen.“
„Also nach Marokko oder Tunis? Bis wir da die Grenze erreicht haben, sind wir längst ergriffen.“
„Es gibt doch noch eine andere Grenze.“
„Nach Süden zu? Was wollen oder vielmehr sollen wir denn in der Wüste?“
„Ich meine nicht die südliche, sondern die nördliche Grenze.“
„Also die See?“
„Ja.“
„Aber da hinaus ist ja am allerschwierigsten zu kommen. Und – lauter französische Schiffe.“