„Fünfzigtausend, das ist zu hoch, viel zu hoch! Ich hatte an fünftausend gedacht.“
„Das wäre eine Lappalie, von welcher man gar nicht reden darf!“
„Wie weit gehen Sie herab?“
„Um keinen Franken.“
Er versuchte scheinbar, zu handeln; sie aber gingen nicht darauf ein. Er tat, als sei er höchst in die Enge getrieben und sagte dann endlich:
„Nun wohl, Sie sollen die Summe haben. Aber ich stelle eine Bedingung.“
„Welche?“
„Daß Sie mir niemals wieder mit einer ähnlichen Forderung kommen!“
„Haben Sie keine Sorge. Das werden wir wohl sehr gern bleiben lassen. Heute zum letzten Mal, dann nie wieder. Also bitte, zahlen Sie aus?“
„Gleich, gleich. Erlauben Sie mir nur, für einen Augenblick zu meiner Tochter zu gehen.“
„Wozu?“
„In ihrem Zimmer befindet sich meine Kasse.“
„Ach so“, sagte der Bajazzo höhnisch.
Vater Main lachte grad hinaus.
„Wirklich?“ sagte er. „Wie wunderbar klug. Das haben Sie sich allerdings nicht schlecht ausgesonnen, mein bester Monsieur Lemartel. Sie gehen zu Ihrer Tochter und bringen anstatt des Geldes die Polizei.“
Der Lumpenhändler erschrak, als er hörte, daß seine Absicht durchschaut sei. Er antwortete schnelclass="underline"
„Wie können Sie das denken, Messieurs?“
„Oh, auf diesen Gedanken ist sehr leicht zu kommen. Und überdies sieht man es Ihnen sehr deutlich an, daß es Ihnen nur darum zu tun ist, aus dem Zimmer zu kommen.“
„Das fällt mir nicht ein. Ich kann Ihnen ja nichts geben, wenn ich das Geld nicht holen darf.“
„Zeigen Sie uns Ihre Brieftasche. Enthält sie wirklich kein Geld, so wollen wir glauben, daß Sie es bei Ihrer Tochter haben. In diesem Fall dürfen Sie das Zimmer verlassen, wir aber gehen natürlich mit.“
„Es ist nichts drin.“
Bei diesen Worten tat er einige Schritte nach der Tür, durch welche sich seine Tochter zurückgezogen hatte. Schnell aber stellte Vater Main sich ihm in den Weg.
„Halt!“ sagte er. „Ohne unsere Erlaubnis kommen Sie nicht fort. Heraus mit der Brieftasche.“
„Soll ich etwa um Hilfe rufen?“
„Das werden Sie nicht.“
Als er das sagte, faßte er Lemartel mit beiden Händen bei der Gurgel. Dieser wollte schreien, brachte aber keinen Laut hervor. Er griff nach seinem Feind, aber in dem selben Augenblick packte ihn auch der Bajazzo so fest, daß er sich nicht zu rühren vermochte. Sein Gesicht wurde erst rot und dann blau; er vermochte nicht, Atem zu schöpfen und verlor die Besinnung.
„Da, laß ihn fallen“, sagte der frühere Schankwirt.
Sie ließen den Bewußtlosen auf die Diele niedergleiten.
„Aber, wenn er erwacht, wird er uns verraten“, meinte der Bajazzo.
„Dagegen gibt es ein sehr gutes Mittel.“
„Welches?“
„Hier dieses.“
Bei diesen Worten zog er ein Messer hervor und stieß es dem Lumpenkönige bis an das Heft in die Brust.
„Herrgott“, stieß der Bajazzo erschrocken hervor.
„Dummheit! Ich glaube gar, du erschrickst! Sei kein Kind! Meine Sicherheit ist mir lieber als das Leben dieses Menschen. Nun laß uns einmal nachsehen.“
Er zog dem regungslosen Ausgestreckten die Brieftasche aus dem Rock und öffnete sie.
„Donnerwetter!“ sagte er, im höchsten Grad erfreut. „Da steckt ja ein ganzes Vermögen.“
„Hat er kein Portemonnaie bei sich?“
„Ja, hier in der Hosentasche. Ach, auch Gold und Silber drin!“
„Und die Uhr, die Ringe?“
„Unsinn! Die Sachen können uns verraten. Wir haben genug. Komm!“
„Halt. Erst die Bärte und Perücken wieder angelegt.“
„Alle Teufel, das hätte ich beinahe vergessen! Das wäre eine schöne Geschichte gewesen.“
Sie legten die erwähnten Gegenstände wieder an und entfernten sich sodann von dem Schauplatz des Verbrechens. –
Agnes hatte sich in ihr Zimmer zurückgezogen. Da zwischen diesem und dem, in welchem sich ihr Vater bestand, ein drittes lag, so war kein Laut der Unterredung des letzteren mit den beiden Raubmördern zu ihr gedrungen. Sie wartete eine sehr lange Weile und trat dann in den Zwischenraum, um zu horchen, ob der Besuch sich noch immer bei ihrem Vater befinde. Als sie nichts hörte, öffnete sie die Türe. Die Männer waren fort, aber der Vater lag am Boden mit dem Messer in der Brust.
Sie stieß einen fürchterlichen Schrei aus und sank neben ihm nieder. Das Bewußtsein wollte ihr schwinden; aber die Kindesliebe war stärker als der Schreck! Sie dachte nicht daran, das Messer aus der Brust zu ziehen. Sie erfaßte den Kopf des Vaters und rief:
„Vater, mein Vater! Bist du tot? O Gott, o mein Gott! Vater erwache, erwache!“
Sie drückte und schüttelte ihn, sie küßte ihn. Sie rief ihm die zärtlichsten Namen in das Ohr. Und da, da öffnete er die Augen und richtete den gläsernen Blick auf sie.
„Vater, mein Vater! Sprich! Rede! Siehst du mich? Erkennst du mich?“
Sein Blick gewann Ausdruck. Seine Hand bewegte sich nach der Brust und griff nach dem Heft des Messers. Da schien er zu erkennen, in welcher Lage er sich befinde.
„Agnes“, flüsterte er.
„Vater! Hast du Schmerzen?“
Ihr Blick war mit entsetzlicher Angst auf ihn gerichtet. Sein Gesicht wurde fahl; das Blut war aus seinen Lippen gewichen.
Kaum hörbar sagte er:
„Vater Main war es.“
„Vater Main? Wer ist das denn?“
„Und Lermille, der Bajazzo.“
„Gott, mein Gott! Sie haben dich verwundet. Sie wollten dich töten.“
Sie griff nach dem Messer.
„Nein“, sagte er mit abwehrender Gebärde. „Hier habe ich – oh, sie ist fort.“
Er hatte nach der Stelle gefühlt, an welcher sich die Brieftasche befunden hatte.
„Was? Was ist fort?“
„Das Geld. Sie haben mich beraubt.“
„Mein Heiland! Hilf Himmel, ich vergesse die Hauptsache; ich muß fort, um Hilfe zu holen.“
Sie fuhr empor, um fortzueilen. Er aber hielt sie durch einen Ausruf zurück.
„Warte, warte“, erklang es stöhnend. „Ich muß, muß, muß dir – – –“
Einige Tropfen Blut quollen zwischen seinen Lippen hervor. Sie sah es und schrie laut auf.
„Agnes“, röchelte er. „Komm – höre mich.“
Sie merkte, daß er ihr etwas sagen wolle. Sie nahm alle ihre Kraft zusammen, um nicht niederzustürzen. Sie kniete neben ihm hin und fragte:
„Was willst du? Sage es.“
„Ich – – – ich heiße – nicht – – – nicht Lemartel.“
„Wie denn“, fragte sie schluchzend.
„Henry – – – o – mein – mein Gott! Daheim in – Paris – Geldschrank – Papier lesen – – –“
Er hatte das mit fürchterlicher Anstrengung hervorgestoßen, dann sank sein Kopf nach hinten. Ihre Angst erreichte den höchsten Grad. Sie raffte sich auf, stürzte nach der Tür, riß diese auf und schwankte hinaus.
„Hilfe! Mörder!“ schrie sie auf.
Dann brach sie zusammen.
Ihr Ruf wurde gehört. Die Bedienung eilte herbei. Eine Minute später hatte die Schreckenskunde von dem Geschehenen sich durch das ganze Hotel verbreitet. Alles eilte herbei. Unter diesen Leuten befand sich auch ein Militärarzt. Er untersuchte Agnes und sagte:
„Sie ist ohnmächtig. Schafft sie fort und sorgt für sie. Sie darf vorerst die Leiche nicht zu sehen bekommen.“
Diesem Befehl wurde sofort Folge gleistet. Dann trat er in das Zimmer und untersuchte auch Lemartel. Seine Miene verkündete kein freudiges Ergebnis. Dieses letztere lautete: